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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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jetzt zur Hand. Armbrustbolzen und Bogenpfeile richteten sich auf das unbekannte Ziel. Auch John legte seine Armbrust an.
    Was immer dieser Uracai ist – er kommt näher, dachte John. Das Rascheln ließ keinen anderen Schluss zu. Im Schutz des Waldes pirschte sich die fremdartige Kreatur heran.
    Jetzt herrschte wieder Stille, eine noch tiefere als zuvor. Eine Minute lang war nicht das Geringste zu hören. Keine Vögel, keine Affen. Nicht einmal Insekten. Die Anwesenheit des Uracai schien sämtliche Geräusche zu absorbieren. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm.
    John konnte die Nähe des Wesens, seine physische Präsenz, deutlich spüren, wie ein elektrisches Feld, das aus dem Nichts des Dschungels zu ihm herüberstrahlte. Alles in John schrie danach, sich umzudrehen und davonzurennen. Aber er blieb stehen, nicht zuletzt, weil die nackte Angst ihn nahezu lähmte.
    Kurz bevor ihm die Nerven versagten, brach die Hölle los. Aus dem graugrünen Blattwerk schossen zwei undefinierbare Schatten wie Katapultsteine in hohem Bogen heran. John, der nicht mit einem Angriff aus der Luft gerechnet hatte, riss instinktiv seine Armbrust nach oben und drückte ab. Sein Bolzen verfehlte das Ziel um einige Meter. Die Geschosse der anderen Soldaten trafen besser, vermochten die Wucht der beiden Flugobjekte jedoch nicht zu mindern. John eilte beiseite, um nicht getroffen zu werden. Erst, als die Schatten auf der Erde aufschlugen und im feuchten Lehm liegen blieben, erkannte er, dass es sich um die beiden Hunde handelte. Ihre toten Körper waren gespickt mit Pfeilen und Armbrustbolzen.
    Die wenigen Sekunden, die John und die anderen benötigten, um zu begreifen, dass sie auf ein Täuschungsmanöver hereingefallen waren und das falsche Ziel beschossen hatten, nutzte der Uracai zum wirklichen Angriff. Laub raschelte, Äste knackten. In der Luft lag plötzlich der widerwärtige Geruch von Schwefel. Vor Johns Augen erzitterte das Blätterwerk von Büschen, Farnen und kleinen Bäumen, als würde eine Urgewalt an ihnen rütteln.
    Dann hörte der Spuk abrupt wieder auf.
    »Was ist los?«, fragte Fuentes leise. »Warum hat er angehalten?«
    »Er hält uns zum Narren«, antwortete John. »Er spielt mit uns Katz und Maus.«
    Kaum hatte er zu Ende gesprochen, knackten plötzlich wieder Äste, diesmal allerdings weiter rechts, wo Orellana und La Roqua bei einer Gruppe Indios standen. Sprach- und machtlos wurde John Zeuge, wie zwei klauenartige Pranken aus dem dichten Laub hervorschnellten und einen Träger mit einem gewaltigen Ruck ins Gebüsch zerrten – so schnell, dass er nicht einmal mehr schreien konnten. La Roqua stand wie zu Stein erstarrt daneben, alle anderen wichen entsetzt zurück.
    Orellana packte sein Schwert, wagte jedoch keinen Versuch, den Indio zu retten. »Bildet einen Kreis!«, brüllte er. »Gesichter nach außen. Auf diese Weise kann uns das Biest nicht in den Rücken fallen! Beeilt euch!«
    Seine Worte waren noch nicht im Wald verklungen, als der Uracai erneut zuschlug, diesmal von links. Er hatte so schnell und leise die Position gewechselt, dass John es kaum glauben konnte. Eine Indio-Frau schrie aus vollem Halse und schlug hysterisch die Hände vors Gesicht. Ihr selbst war nichts passiert, aber der spanische Soldat neben ihr – ein Bogenschütze namens Lorenzo Ruíz – sank in die Knie und fiel vornüber auf den Bauch. Er blieb mit dem Gesicht nach unten liegen und rührte sich nicht mehr. Im Rückenteil seines Brustharnischs klaffte ein blutroter Riss von oben bis unten. Er war regelrecht aufgeschlitzt worden.
    Gaspar de Carvajal wurde aschfahl im Gesicht. »Dieses Biest ist der Antichrist!«, murmelte er.
    »Ihr sollt einen gottverdammten Kreis bilden!«, brüllte Orellana wieder. Doch niemand schien ihn zu hören, denn alle hatte inzwischen die nackte Panik erfasst. Die Indios schrien wild durcheinander, ließen alles fallen, was sie bei sich trugen, und rannten davon, so schnell sie konnten. Auch einige Spanier zogen es vor, Orellanas Befehl zu ignorieren und ihr Heil in der Flucht zu suchen, darunter Felipe Fuentes und Jorge La Roqua.
    John konnte ebenfalls nichts mehr hier halten. Ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen, sprintete er los und tauchte ins nächstbeste Gebüsch ein. Blätter und Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Irgendetwas – ein Dorn oder ein abgebrochener Ast – riss ihm die Haut auf. Er ignorierte es. Hauptsache weg von hier, dachte er. Hauptsache weg von diesem schrecklichen Albtraum!
    Er

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