Incognita
jedoch feststellte, dass sie Ohrringe trug, die er nie zuvor an ihr gesehen hatte, stellte er sie zur Rede.
»Die habe ich mir doch für die Eröffnung der Amazonas-Ausstellung gekauft«, antwortete sie, scheinbar ehrlich verblüfft darüber, dass er sich nicht mehr daran entsinnen konnte. »Weil sie so gut zu der Kette passen, die du mir zum Geburtstag geschenkt hast.« Sie machte eine Pause, warf ihm einen auffordernden Blick zu, als wolle sie sagen: Erinnerst du dich jetzt?
Aber John erinnerte sich nicht, jedenfalls nicht daran. In seiner Erinnerung hatte sie eine Perlenkette und Perlenohrringe getragen, keinen mit Rubinen besetzten Platinschmuck.
Er fragte sie auch nach den Frühstückstellern, der Fernbedienung und der Pflanze in der Wohnzimmerecke. Aber statt einer Antwort erhielt er nur sorgenvolle Blicke. »Was ist los mit dir, Liebling?« Sie sprach leise, wie zu einem Kranken. »Fühlst du dich nicht wohl? Soll ich Doktor Thompson anrufen? Er kommt bestimmt auch sonntags vorbei.«
John fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich all die kleinen Veränderungen nur einbildete. Aber was, wenn doch? Litt er unter Gedächtnisstörungen? Oder mehr noch: unter Wahnvorstellungen? Hatte die Reise in die Vergangenheit womöglich irgendwie seinem Gehirn geschadet? Wenn ja, wie? War ein Teil seiner Seele, ein Teil dessen, was seine Persönlichkeit ausmachte, auf der Wanderschaft durch Raum und Zeit abhandengekommen? Durch einen verdammten Computerfehler in Gordons Labor?
Als Laura ihm einen Ausflug vorschlug, um ihn ein wenig abzulenken, kam er sich vor, als sei sein Innerstes zu Stein erstarrt. Dennoch willigte er ein. Er musste auf andere Gedanken kommen. Außerdem hoffte er, dass sein Zustand sich von selbst bessern würde, wenn er an die frische Luft kam und sich entspannte.
Eine halbe Stunde später lenkte er seine Limousine durch die Häuserfluchten Londons. Es war ein herrlicher, wolkenloser Tag, an dem die Sonne ihre ganze sommerliche Kraft entfaltete. Im Innern der Limousine herrschte jedoch empfindliche Kälte, denn John hatte die Klimaanlage auf Maximum eingestellt. Ihm war noch immer, als würde die Hitze des Dschungels ihn ausdörren.
Das Autotelefon klingelte. John betätigte die Freisprechanlage.
»Hallo, John.« Es war Gordon. »Wie geht es dir? Hast du dich von deinem Amazonas-Ausflug erholt?«
Im Augenwinkel sah John, dass Laura ihn fragend ansah. Er vertröstete sie mit einer beschwichtigenden Handbewegung. Zu Gordon sagte er: »Um ehrlich zu sein – nein. Ich habe den Verdacht, dass mit mir etwas nicht stimmt.« Weshalb sollte er ihm die Wahrheit vorenthalten? Wenn es überhaupt jemanden gab, der wusste, was ihm fehlte, dann war es Gordon.
»Wie meinst du das?«
»Ich kann mich an manche Dinge nicht mehr erinnern. Besser gesagt, ich habe sie falsch in Erinnerung.« Er schilderte ihm seine Symptome konkreter, erwähnte all die Merkwürdigkeiten, die ihm in den letzten Tagen aufgefallen waren. »Ist das besorgniserregend oder eine ganz normale Nachwirkung?«, fragte er zögernd.
Nachwirkung? Laura formte das Wort stumm mit den Lippen, um zu verdeutlichen, dass sie kein Wort der Unterhaltung verstand. John hielt sie abermals mit einer beschwichtigenden Geste hin.
»Du bist nicht der erste Fall mit Wahrnehmungsstörungen«, gab Gordon nach kurzem Zögern zu. »Wir hatten das Problem schon einmal, allerdings sind die Anzeichen bei dir wesentlich ausgeprägter, was daran liegen könnte, dass du so lange weg warst. Eventuell sind dafür auch die Störungen verantwortlich, die während deiner Reise aufgetreten sind. Darüber wollte ich ohnehin mit dir sprechen. Wir haben inzwischen herausgefunden, was schiefgelaufen ist. Wann hast du Zeit, damit wir das besprechen können?« Offenbar war ihm daran gelegen, die Komplikationen aufzuklären, um sich die Chance auf Johns Geld zu bewahren.
Laura meldete sich unerwartet zu Wort. Ihr Tonfall war zuckersüß und dadurch umso bissiger. »Wie wär's mit heute Abend, Gordon? Komm doch zum Essen zu uns. Sagen wir um halb acht? Denn ehrlich gesagt interessiert mich brennend, wovon zum Teufel ihr beiden sprecht!«
John überlegte, was er sagen sollte. Er hatte Laura bislang nichts von seiner Zeitreise erzählt, aber schließlich wollte er dieses Geheimnis nicht ewig für sich behalten. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, Laura in Gordons Beisein einzuweihen. Wenn zwei Menschen dieselbe Geschichte
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