Incognita
Laura etwas von dem vermeintlichen Verfolger erzählen sollte, entschied sich aber dagegen. Er wollte sie nicht beunruhigen. Vor allem aber wollte er von ihr nicht für paranoid gehalten werden.
Hoffentlich hat Gordon beim Abendessen ein paar gute Antworten parat, dachte er seufzend. Ich muss endlich wissen, was mit mir los ist!
Wenig später schlenderten Laura und er durch die gepflegte Grünanlage, in der es von Menschen nur so wimmelte. Bei schönem Wetter war der Hyde Park ein beliebtes Ausflugsziel. Überall sah man Fußgänger, Jogger, Rollschuh- und Fahrradfahrer, gelegentlich sogar Reiter. Auf den Bänken saßen ältere Damen mit Sonnenhüten, Mütter mit Babys auf dem Schoß oder einfach nur Zeitungsleser, die ihre Lektüre unter freiem Himmel genießen wollten. Und die weitläufigen Wiesen waren von Picknickern der unterschiedlichsten Art eingenommen worden: Gewöhnliche britische Vorzeige-Familien vermischten sich hier mit Hare-Krishna-Anhängern, Rasta-Jüngern und Punkern. Der Hyde Park präsentierte sich wie üblich als Querschnitt durch sämtliche Bevölkerungsteile Londons.
John und Laura bummelten hinüber zum See, blieben aber an der Nordseite, weil sich am gegenüberliegenden Ufer der Lido, das einzige Freibad mitten in der Stadt, befand und es dort entsprechend turbulent zuging. Als sie sich an einem Kiosk ein Eis kauften, fiel John in einiger Entfernung abermals der Jorge-La-Roqua-Klon auf. Er schien keine Notiz von ihm oder Laura zu nehmen, sondern fütterte am Ufer Enten. Aber das konnte auch nur Schau sein.
John schlenderte mit Laura weiter – scheinbar unbekümmert, in Wahrheit jedoch ziemlich verwirrt. Wer war dieser Kerl? Woher stammte seine verblüffende Ähnlichkeit mit einem spanischen Konquistadoren, der vor über vierhundertfünfzig Jahren im Amazonas-Regenwald gestorben war? Oder handelte es sich bei dieser modernen Version von Jorge La Roqua lediglich wieder um ein Produkt seiner Fantasie?
Er blieb stehen, Laura ebenfalls. »Ich weiß, es klingt seltsam, aber tu mir den Gefallen und sag mir, ob du diesen Enten fütternden Typen hinter mir ebenfalls siehst«, sagte er. »Den Koloss am Ufer.«
Laura wirkte irritiert, tat dann aber, worum er sie bat. »Nein«, sagte sie schließlich. »Da ist niemand, auf den deine Beschreibung passt.«
Als John sich umdrehte und seinen Blick ebenfalls noch einmal über das Ufer wandern ließ, stellte er fest, dass der Mann tatsächlich verschwunden war.
Kapitel 20
Gordon brachte zum Abendessen einen 1982er Mouton Rothschild mit. John verstand nicht allzu viel von Wein, aber immerhin genug, um zu wissen, dass die Flasche mehrere hundert Pfund kostete. Entweder plagte Gordon wegen der missglückten Zeitreise das schlechte Gewissen, oder er war sich derart sicher, Johns fünfzehn Millionen Pfund zu bekommen, dass er den heutigen Abend als Anlass zum Feiern nahm.
»Laura und ich waren heute im Hyde Park«, begann John, als sie gemeinsam am Tisch saßen. Es gab Tagliatelle arrabbiata nach einem Rezept von Lauras venezianischer Großmutter. »Dort habe ich einen Kerl gesehen, der einem Konquistadoren von der Zeitreise wie aus dem Gesicht geschnitten war. Außerdem gibt es eine Reihe weiterer Dinge, die mir in den letzten Tagen merkwürdig erschienen. Das habe ich dir schon am Telefon erzählt. Gordon – ich muss wissen, was mit mir los ist. Ich leide an Verfolgungswahn und kann Realität und Einbildung nicht mehr voneinander unterscheiden. Am besten, du beginnst damit, Laura alles über dein Projekt zu erzählen.«
»Hast du das noch nicht getan?«
»Ich befürchtete, sie hält mich dann für übergeschnappt. Ich meine, momentan bin ich wirklich nicht gerade zurechnungsfähig.«
Gordon lächelte verständnisvoll. Er griff nach seinem Glas, schwenkte es und nippte daran. Dann gab er einen knappen, aber exakten Abriss über seine Forschungsarbeiten und über die Reise, die John absolviert hatte.
Während Gordon sprach, beobachtete John seine Frau genau. An ihrer Miene konnte er keine Reaktion ablesen – als Anwältin verstand sie es bestens, sich unter Kontrolle zu haben –, doch er ahnte, was in ihr vorging. Ihm selbst war es nicht anders ergangen, als er Gordons Geschichte zum ersten Mal gehört hatte. Belustigte Skepsis wandelte sich in Verwunderung, und schließlich begann man allmählich, das Unmögliche für möglich zu halten. Ein ganz und gar unbeschreibliches Gefühl.
Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, nippte Gordon
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