Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
Vom Netzwerk:
Hungrig aß er in der Küche eine Mikrowellen-Lasagne. Kaum hatte er den letzten Bissen hinuntergeschluckt, klingelte das Haustelefon. Chester, der Portier, gab durch, dass der Kammerjäger auf dem Weg nach oben war.
    Erst als John den Hörer wieder aufgelegt hatte, kam ihm der Gedanke, dass Chester womöglich ebenfalls in die gegen ihn gerichtete Intrige verwickelt war. Am Morgen hatte er ihm geholfen, das Ameisenproblem in den Griff zu bekommen, und dabei ausreichend Gelegenheit gehabt, John auf seine zweimonatige Abwesenheit anzusprechen. Weshalb hatte er es nicht getan? Nur aus Diskretion, weil er sich nicht in Johns Privatangelegenheiten einmischen wollte? Oder weil er bewusst dazu angehalten worden war – zum Beispiel mit einem kleinen Bestechungsgeld –, um John in Sicherheit zu wiegen? Unmöglich zu sagen, aber auf jeden Fall zählte auch Chester Kellerman zum Kreis der Verdächtigen. Die Frage war: wer noch?
    Es klingelte, was John zwang, seine Überlegungen auf später zu verschieben. Er öffnete die Wohnungstür und ließ Bill Mahoney herein, einen Bären von einem Mann. Mit gut einem Meter neunzig Länge und geschätzten zweihundert Pfund Körpergewicht hätte er auch einen hervorragenden Preisringer abgegeben. In der Rechten trug er eine Spritzpistole mit armlanger Aufsatzdüse, auf dem Rücken einen Kunststoffbehälter für Insektizide, sodass er ein wenig an einen Taucher mit Sauerstoffflasche und Harpune erinnerte. An seinem Gürtel hing ein ganzes Arsenal an Ausrüstungsgegenständen: Pipetten, Pinzetten, Plastikröhrchen und vieles mehr. Auf der Brust seines roten Overalls stand in fetten Lettern Insect Kill Bill. Der Mann war die personifizierte Kampfansage an alle Sechsfüßler dieser Welt.
    John führte ihn ins Wohnzimmer und zeigte ihm die Stelle, an welcher der Ficus gestanden hatte. »Der ganze Baum war voll von den Viechern«, erklärte er. Die bloße Erinnerung ließ ihn schaudern. »Jetzt steht er, in einem Plastikbeutel verpackt, auf der Terrasse.«
    »Wissen Sie, wie die Tiere in Ihre Wohnung gelangt sind?«, fragte der Kammerjäger.
    »Ich glaube, sie kamen von irgendwo hinter dem Heizkörper aus der Wand.«
    Mahoney nickte, kramte eine Taschenlampe aus der Hosentasche und begann, damit hinter den Heizkörper zu leuchten. Da er nicht fündig wurde, nahm er einen kleinen, an einer Teleskopantenne befestigten Spiegel zu Hilfe. Mit geübten Bewegungen begutachtete er jeden Quadratzentimeter hinter der Heizung.
    »Hier ist ein kleiner Spalt, wo das Heizrohr aus der Wand kommt«, sagte er. »Allerdings kann ich keine Ameisen erkennen. Sie scheinen begriffen zu haben, dass es hier nichts mehr für sie zu holen gibt, deshalb haben sie sich zurückgezogen. Ich schlage vor, dass ich ein wenig von meinem Zaubermittel in den Spalt spritze.« Er deutete mit dem Daumen auf den Insektizid-Behälter auf seinem Rücken. »Das wird sie davon abhalten, noch mal bei Ihnen vorbeizuschauen. Um auf Nummer sicher zu gehen, werde ich den Spalt zusätzlich mit Silikon verfugen. In Zukunft haben Sie nichts mehr zu befürchten.«
    John willigte ein. Nach einer Viertelstunde war alles erledigt.
    »Soll ich den Baum auf der Terrasse für Sie entsorgen?«, fragte Mahoney.
    »Gerne.«
    John öffnete die Terrassentür und führte den Kammerjäger zu dem Plastiksack, in dem der Ficus steckte. In der durchsichtigen Tüte befand sich ein dicker Bodenbelag aus Tausenden und Abertausenden toter Ameisen, die der Hitze des Tages zum Opfer gefallen waren. Nur hier und da regten sich noch ein paar besonders widerstandsfähige Exemplare.
    »Kleine Biester«, murmelte John.
    Mahoney griff nach dem Sack, hob ihn in die Höhe und betrachtete den Inhalt im Licht der untergehenden Sonne. »So klein sind die gar nicht«, sagte er sichtlich überrascht. Er setzte den Plastiksack ab, öffnete ihn und griff mit der bloßen Hand hinein. John fröstelte. Als Mahoney die Hand wieder herauszog, lagen in seiner hohlen Handfläche ein paar tote Ameisenkörper, etwa zwei Zentimeter groß, schwarz und glänzend. Fassungslos schüttelte er den Kopf.
    »Was ist?«, wollte John wissen.
    »Na ja« – Mahoney hielt inne – »so etwas habe ich in zwanzig Berufsjahren noch nicht gesehen. Blattschneiderameisen. Leben normalerweise in den Tropen. Sie ernten Baumblätter und bringen sie in ihren Bau, als Nährboden für einen Pilz, den sie als Nahrung züchten. In England wurden Blattschneiderameisen meines Wissens noch nie gesichtet, schon gar

Weitere Kostenlose Bücher