Incognita
Schmerz hemmungslos aus sich herauszuschluchzen. Als er merkte, dass er so nicht länger Auto fahren konnte, hielt er am Straßenrand an. Dort weinte er lange Zeit weiter, mal leise und in sich gekehrt, dann wieder laut, beinahe brüllend.
Endlich versiegten die Tränen. Was dann kam, war ein Zustand tiefster Kälte und Dunkelheit. Er fühlte sich wie gelähmt, sein Innerstes wurde taub, wie tot. Sein Kopf war nur noch ein dumpfer Hohlraum, in dem eine einzige Frage wie ein Echo nachhallte, immer und immer wieder: warum?
Zum ersten Mal, seit er im Auto saß, fiel ihm auf, dass das Radio lief. Die leise dahinplätschernde Musik schaffte es, dass er sich ein wenig entspannte. Die anschließenden Tagesnachrichten lenkten ihn zumindest für den Moment von seiner Trauer ab, auch wenn er nur Satzfragmente mitbekam: »… bei Anschlägen im Gaza-Streifen wurden mindestens zehn Menschen getötet, zwanzig weitere zum Teil schwer verletzt … konnte das Wirtschaftswachstum inflationsbereinigt um 1,5 Prozent gesteigert werden … setzt sich die Mordserie in London fort …«
Der letzte Satz ließ ihn aufhorchen: »Heute Morgen wurden in einer Apartment-Anlage in Westminster zwei weitere Leichen entdeckt. Auch sie wurden durchbohrt und anschließend enthauptet, konnten jedoch rasch identifiziert werden. Es handelt sich um Chester Kellerman, den Portier des Wohnkomplexes, und Laura McNeill, eine angesehene Londoner Anwältin. Ein Polizeisprecher teilte mit, dass ihr Ehemann John McNeill unter dringendem Tatverdacht stehe, da die mutmaßliche Mordwaffe, eine Teakholz-Lanze, seine Fingerabdrücke aufweise. Außerdem wurde im Penthouse des Hauptverdächtigen der Kopf des Portiers gefunden. Darüber hinaus gibt es eine Reihe noch nicht spezifizierter Blutspuren sowie zwei Dolche, die offenbar zu Verteidigungszwecken eingesetzt wurden und die Fingerabdrücke eines Unbekannten aufweisen. Alles deutet daraufhin, dass möglicherweise eine weitere Person in John McNeills Wohnung schwer verletzt oder getötet wurde. Über ihren Verbleib ist bis zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch nichts bekannt.
Von den sieben bereits in der Nacht ermordeten Opfern sind mittlerweile vier identifiziert. Es handelt sich ausnahmslos um Freunde und Bekannte von John McNeill, was den Verdacht gegen ihn weiter erhärtet. Einen gezielten Racheakt schließt die Polizei derzeit nicht aus, wahrscheinlicher sei jedoch eine Kurzschlussreaktion, so die offizielle Stellungnahme, da der Verdächtige erst vor Kurzem seines Amtes als Konzernchef enthoben wurde. John McNeill gilt als gefährlich und paranoid. Von ihm fehlt bislang jede Spur. Sachdienliche Hinweise zu diesem Fall nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.«
Dann wurde noch erwähnt, dass John vermutlich in seinem eigenen Wagen floh. Auch das Kfz-Zeichen gab der Radiosprecher durch, gemeinsam mit der Bitte an alle Zuhörer, John unter keinen Umständen selbst stellen zu wollen.
John blickte starr auf die Straße hinaus. Die Worte sickerten nur langsam zu ihm durch. Doch allmählich begriff er: Er wurde polizeilich gesucht, weil man ihn als Täter verdächtigte. Als mehrfachen Mörder, der unter anderem seine eigene Frau umgebracht haben sollte!
Wie war das möglich?
Offenbar fehlte von dem Jívaro-Krieger jede Spur. Die Dolche und das Blut, das er während des Kampfes verloren hatte, waren für die Polizei nur Indizien für ein weiteres Verbrechen, das John begangen haben sollte.
Ein weiterer Gedanke beschäftigte John: Mindestens vier der sieben nächtlichen Opfer waren seine Freunde und Bekannten gewesen, vielleicht sogar alle sieben. Wer waren sie? Und weshalb hatte der Jívaro sie umgebracht? Grenzenlose Verzweiflung überkam ihn. Würde er jemals die Wahrheit erfahren?
Das Klingeln des Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Er schaltete die Freisprechanlage ein – es war Gordon.
»Hast du die Nachrichten gehört?«, fragte John.
»Vor einer Minute. Stimmt es, dass Laura …« Er zögerte. »… dass sie tot ist?«
»Ja.«
»Großer Gott, das ist entsetzlich! Was ist passiert?«
John erzählte es ihm. Als er damit fertig war, trat eine Pause ein.
Schließlich brach Gordon das Schweigen: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut.«
Es klang ehrlich, dennoch war es für John kein Trost. Selbst die mitfühlendsten Worte hätten ihm im Moment nicht helfen können.
»Ich weiß, es ist meine Schuld«, fuhr Gordon fort. »Hätte ich dich nicht auf diese Reise geschickt, wäre
Weitere Kostenlose Bücher