Incognita
stieß sie dem Jívaro so heftig wie möglich entgegen. Beide Dolchspitzen bohrten sich dicht neben Johns Kopf ins Sofaleder. Gleichzeitig knackten Rippen, und der dunkelhäutige Riese stöhnte auf. John stemmte den schweren Körper mit aller Macht von sich. Benommen krachte der Krieger auf den Wohnzimmertisch.
John sprang vom Sofa auf. Er wollte nur noch eines: weg von hier. Doch kaum war er losgerannt, wurde er auch schon am Bein gepackt. Er fuhr herum. Der Eingeborene hatte einen der Dolche fallen lassen und die nun leere Hand in Johns Hosenaufschlag gekrallt. Der andere Dolch befand sich noch in seiner Faust, mit der er soeben ausholte. Zweifellos wollte er John die Klinge in die Wade rammen.
Was nun folgte, unterlag nicht mehr Johns freiem Willen. Er handelte nur noch, wie sein Überlebenstrieb es ihm befahl. Ein verborgener Teil seines Bewusstseins registrierte, dass er noch immer die Lanze in den Händen hielt – seine einzige Chance. Ohne weiter darüber nachzudenken, stieß er zu.
Einen Moment lang schien die Szenerie wie eingefroren. Der Jívaro-Krieger lag auf dem Wohnzimmertisch, aufgebahrt wie auf einem Opferaltar. Sein Blick richtete sich ungläubig auf John, dann auf die Lanze, die in seiner Bauchdecke steckte und im schrägen Winkel nach oben abstand. Er keuchte schwer, sagte etwas. Es klang wie ein mit letzter Kraft hervorgebrachter Fluch.
John spürte, wie die Anspannung von ihm wich. Der dunkelhäutige Koloss lag sterbend vor ihm, sein Atem ging nur noch stoßweise. Beinahe empfand John Mitleid mit dem Jívaro. Er fragte sich, was den Mann dazu bewogen hatte, ihn töten zu wollen, fand aber keine Antwort.
Wie auch immer, dachte John. Hauptsache, es ist ihm nicht gelungen.
In diesem Moment sprang der Indio wider aller Wahrscheinlichkeit auf und stürmte – die Lanze noch immer im Körper steckend – mit hoch erhobenem Dolch auf John zu.
John rannte um sein Leben. Er durchquerte das Wohnzimmer und den Eingangsbereich, riss die Wohnungstür auf und stürzte in den Flur hinaus. Ganz automatisch wollte er in Richtung Fahrstuhl laufen, doch dann kam ihm der abschreckende Anblick von Chesters Leiche in den Sinn. Außerdem hörte er die schweren Schritte des Indio-Kriegers dicht hinter sich.
Wenn die Lifttüren sich nicht schnell genug schließen, sitze ich in der Falle, dachte John.
Er entschied sich für den rechten Gang. Nach dreißig endlos langen Metern erreichte er die Tür zum Treppenhaus. Er stieß sie auf, rannte nach unten. Irgendwo über sich hörte er noch immer die Schritte seines Verfolgers, doch sie waren jetzt leiser. Sein Vorsprung vergrößerte sich. Dennoch gönnte er sich keine Pause. Erst, als er im Untergeschoss angekommen war, hielt er einen Moment inne, um zu verschnaufen und seine Lage einzuschätzen. Von dem Eingeborenenkrieger war nichts mehr zu hören oder zu sehen.
Ich habe ihn abgehängt, dachte John. Gleichzeitig wusste er, dass er sich erst außerhalb des Gebäudes wirklich sicher fühlen konnte.
Er durchquerte die Tiefgarage im Laufschritt, verlangsamte jedoch sein Tempo, als er sich seinem Parkplatz näherte. Neben seinem Daimler stand noch immer Lauras Volvo, dabei hatte sie heute mit dem Wagen ins Büro fahren wollen. John lief es heiß und kalt über den Rücken.
Vorsichtig näherte er sich den Autos. Bereits durch die Heckscheibe des Volvos sah er, dass jemand am Steuer saß. Bitte lass Laura noch am Leben sein!, flehte er in Gedanken. Doch seine Vorahnung wurde zur Gewissheit, als er durchs Seitenfenster spähte. Seine Frau saß zusammengekrümmt auf dem Fahrersitz. Sie trug noch immer ihren eleganten, schwarzen Hosenanzug und die cremefarbene Bluse. Aber dort, wo früher ihr Kopf gewesen war, befand sich jetzt nur noch ein hässlicher, blutiger Halsstumpf.
Kapitel 25
John preschte mit seinem Daimler durch die Londoner Straßenschluchten. Er wusste, dass er zu schnell fuhr. Es war ihm gleichgültig. Alles, was er wollte, war, die Tragödie hinter sich zu lassen. Möglichst viel Abstand zu gewinnen und nicht mehr daran zu denken. Doch während er, ohne auf den Verkehr zu achten, aufs Gaspedal drückte, verfolgten ihn die grauenhaftesten Bilder.
Wie durch ein Wunder verursachte er keinen Unfall, und er wurde auch von keiner Streife angehalten. Irgendwann – das Zeitgefühl hatte er komplett verloren – begann er zu weinen. Zuerst bahnte sich nur eine einzelne Träne ihren Weg, doch schon kurz darauf hielt ihn nichts mehr davon zurück, seinen
Weitere Kostenlose Bücher