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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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all das nicht passiert.«
    John widersprach nicht. Irgendwie verschaffte es ihm Genugtuung zu wissen, dass Gordon sich mit Selbstzweifeln quälte. Er hatte John zu einer Zeitreise überredet, ihn dann jedoch in ein anderes Universum transferiert. Nun waren die Dinge außer Kontrolle geraten.
    »Hast du dich inzwischen entschieden?«, fragte Gordon. »Ich meine, ob du die Rückreise in deine alte Welt wagen willst oder nicht.«
    John erinnerte sich an das nächtliche Gespräch. Noch vor wenigen Stunden war er nicht sicher gewesen, ob er sein Leben für die Chance riskieren wollte, wieder in die Heimat zurückzukehren. Doch seitdem hatte sich alles geändert. Laura war tot, die Polizei verfolgte ihn, und ein wahnsinniger Indio wollte ihn umbringen. Je länger er sich in dieser Welt aufhielt, desto heimtückischer wurde sie. Es gab nichts, aber auch absolut gar nichts, was ihn länger hier halten konnte. Falls seine Rückkehr glückte, würde er alles wiederbekommen, was er im Lauf der letzten beiden Tage verloren hatte. Und wenn er bei dem Versuch draufging, war das immer noch besser, als weiter in dieser Hölle zu sein.
    »Wie lange brauchst du für die Vorbereitungen?«, fragte John.
    »Das meiste ist schon erledigt«, sagte Gordon. »Ehrlich gesagt, habe ich mir nicht vorstellen können, dass du mein Angebot ausschlägst. In zwei Stunden könnte ich so weit sein.«
    Nur noch zwei Stunden, und dieser Albtraum würde ein Ende haben – so oder so. Die bloße Vorstellung erfüllte John mit tiefer Dankbarkeit. »Wohin soll ich kommen?«
    »Zur Cutty Sark. Ich hole dich dort um drei Uhr ab. Schaffst du das?«
    John musste zuerst überlegen, wo er sich im Moment befand. Im Gefühlschaos aus Trauer, Hoffnungslosigkeit und nackter Angst war er blindlings drauflosgefahren. Jetzt versuchte er zum ersten Mal, sich zu orientieren. In einiger Entfernung sah er ein Straßenschild. Bis nach Windsor waren es nur noch zwei Kilometer. Also war er in Richtung Westen gefahren. Die Cutty Sark, ein legendärer Teeklipper, der heute auf einem Betonfundament am Themse-Ufer stand und als Museumsschiff diente, war ein Wahrzeichen von Greenwich, das genau in der entgegengesetzten Richtung lag. Dennoch blieb John genügend Zeit, um sich dort einzufinden.
    »Kein Problem«, sagte er. »Spätestens um drei Uhr werde ich dort sein.«
    Die Straßen waren an diesem Nachmittag erstaunlich frei, sogar in der Innenstadt. Als John durch den Blackwall-Tunnel das Südufer der Themse erreichte, hatte er noch eine halbe Stunde Zeit. Er ließ den Millennium Dome hinter sich, fuhr auf der A 102 noch ein kurzes Stück Richtung Süden und bog dann nach rechts auf eine Zubringerstraße ab.
    Auf einem der zahllosen leeren Parkplätze hielt John seinen Wagen an. Das komplette Gelände war wie ausgestorben, obwohl die Cutty Sark normalerweise ebenso zum Freizeitprogramm der Londoner gehörte wie der unmittelbar angrenzende Greenwich Park mit dem Royal Observatory. Doch mittlerweile gab es nichts mehr, was John in dieser Welt überraschen konnte.
    Zwanzig vor drei.
    Um sich die Beine zu vertreten, stieg John aus. Der hölzerne Aufstieg zur Cutty Sark war durch eine Eisenkette versperrt. Daran hing ein Schild mit der Aufschrift ›Heute geschlossen‹.
    Er schlenderte an der Flusspromenade entlang. Nach einigen Metern erreichte er das Royal Naval College, ein ehemaliges Hospital für Seeleute, das 1873 zur Marineschule umfunktioniert worden war. Im Hintergrund erhob sich der Parkhügel mit der königlichen Sternwarte, deren Arbeit für die englische Seefahrt einst so wichtig gewesen war, dass man durch diesen Ort den Längengrad Null verlaufen ließ. Im Vordergrund befanden sich die prunkvollen weiß-braunen Säulenbauten des College-Areals, die von zwei trutzigen Kuppeltürmen dominiert wurden. Mit dem Fluss im Rücken wirkte die Architektur wie ein Teil der Lagunenstadt Venedig.
    Auch hier war alles verwaist – keine Menschenseele weit und breit. Obwohl die Sonne warm vom wolkenlosen Himmel herabschien, fröstelte John. Das altehrwürdige Gemäuer verströmte Friedhofsatmosphäre.
    Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Kurz vor drei. Zeit, zum Auto zurückzugehen, um Gordon nicht zu verpassen. Kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, sah er jedoch, wie sich auf der Uferstraße ein Polizeiwagen näherte.
    Auch das noch!
    John zweifelte nicht daran, dass die Beamten das Kennzeichen seines Wagens überprüfen und in wenigen Minuten die Gegend nach ihm absuchen

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