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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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hielt sie zurück, als sie ihn weiterküssen wollte. Irritiert öffnete sie die Augen. John suchte nach Worten, aber er war nicht besonders gut darin, sich in Gefühlsdingen auszudrücken, zumal, wenn er jemanden verletzen musste, den er mochte. Endlose Sekunden verstrichen, während er nach den richtigen Formulierungen suchte, sein Kopf schien ihm leer wie eine Hohlkugel. Er war erleichtert, als er ein Geräusch vernahm, von irgendwoher aus der Dunkelheit.
    »Hast du das gehört?«, fragte er, um das Schweigen zu brechen.
    »Das ist nur der Wachposten. Er hat vorhin dort drüben Stellung bezogen.« Neya deutete in den Wald, doch ihr Blick war nach wie vor auf John geheftet. »Warum weicht Ihr mir aus, Herr?«, fragte sie. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
    Schon glaubte John, nun doch noch eine Erklärung abgeben zu müssen, als das Geräusch ein zweites Mal ertönte. Diesmal lauter und eindeutiger: ein Knurren, tief und kehlig. Dort draußen lauerte etwas in der Dunkelheit. John spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
    Aus derselben Richtung hörte John eine Stimme: »Was ist das? Beim Allmächtigen – Vargas, Ihr seid eingeschlafen und habt das Feuer niederbrennen lassen! Verdammter Narr!« Eindeutig Hernán Gutiérrez.
    »Und Ihr? Habt Ihr etwa nicht geschlafen?«
    »Ich …«
    Das Knurren erstarb, dafür begann es jetzt, leise und bedrohlich im Unterholz zu rascheln.
    »Es kommt näher! Zurück zum Lager. Um Himmels willen, beeilt Euch, Vargas!«
    Dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Einem kurzen, aggressiven Fauchen folgte der markerschütternde Schrei eines Menschen. John packte sein Schwert und sprang auf. Erleichtert stellte er fest, dass er nicht der Einzige war, der den Tumult mitbekommen hatte. Andere spanische Soldaten waren ebenfalls auf den Beinen. Doch noch schien niemand den Ernst der Lage richtig erfasst zu haben.
    Holz knackte. Das Laub wurde jetzt regelrecht aufgepeitscht. Der Schrei, eben noch hysterisch und schrill, verstummte.
    »Vargas?« Es war Gutiérrez. »Vargas, was ist mit Euchhh …« Seine Stimme verzerrte sich zu einem gurgelnden Röcheln.
    John war starr vor Schreck. Was sich in der Finsternis des Waldes, nur wenige Meter entfernt, abspielte, war nichts anderes als ein Todeskampf!
    Dann fiel die Angst plötzlich wie unnötiger Ballast von ihm ab, und er wusste, was er zu tun hatte. Er rannte zur nächsten Feuerstelle, riss einen brennenden Ast als Fackel heraus und sprang ins Dickicht, dorthin, woher die Schreie gekommen waren. Hinter sich hörte er Stimmen und Schritte – andere Konquistadoren folgten ihm offenbar, was seinen Mut stärkte. So schnell ihn seine Beine trugen, eilte er voran, die Fackel in der einen, sein Schwert in der anderen Hand.
    Er erreichte die Unglücksstelle und hielt inne. Ein Soldat, den er nicht kannte, lag rücklings auf dem Boden – offenbar Vargas. Er blutete aus unzähligen Stellen, seine Augen starrten stumpf ins Leere. Kein Zweifel, der Mann war tot.
    John stand wie gelähmt vor der Leiche. Die anderen Konquistadoren schlossen neben ihm auf, darunter auch ein paar Hundeführer, die Schwierigkeiten hatten, ihre vor Aufregung wild kläffenden Tiere zu bändigen. Die meisten Spanier bekreuzigten sich und murmelten etwas Unverständliches vor sich hin – vielleicht Stoßgebete, vielleicht auch nur Worte des Entsetzens. Einer musste sich übergeben.
    »Heilige Mutter Gottes!« Felipe Fuentes hatte sich zu John gesellt und verzog angewidert das Gesicht. »Dort drüben liegt noch einer!«
    John eilte ein paar Schritte weiter, um die Dunkelheit mit dem Schein der Fackel zu erhellen. Das Wiesel hatte recht: Hernán Gutiérrez lag ebenfalls grausam entstellt auf dem Boden. Seine Beinlinge waren zerfetzt und blutdurchtränkt. Seine linke Hand war nur noch durch ein paar Sehnen mit dem Unterarm verbunden, der rechte Arm stand in einem unnatürlichen Winkel vom Körper ab und verschwand im Gebüsch. An seinem Hals klaffte eine einzige, riesige Wunde, und über sein Gesicht zogen sich tiefe Risse.
    Dennoch bewegte sich Gutiérrez plötzlich. John konnte es kaum glauben. Wie um alles in der Welt war das möglich? Niemand konnte diese schrecklichen Verletzungen überlebt haben, schon gar nicht die offene Wunde am Hals! Doch erneut zuckte Hernán Gutiérrez zusammen.
    Und dann glitt sein Körper auf einmal so schnell über die Erde, dass John eine Sekunde brauchte, bis er begriff: Gutiérrez bewegte sich nicht selbst – er wurde bewegt.

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