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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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passieren ließ, wurde ihm das Ausmaß der nächtlichen Katastrophe in vollem Umfang bewusst: Der geschichtlichen Überlieferung zufolge hatte Hernán Gutiérrez sich im Kampf gegen die Krieger des Machiparo als Held hervorgetan. Doch er war letzte Nacht von einem Jaguar getötet worden, lange bevor er seine Heldentat vollbringen konnte. Wie war dieser Widerspruch zu erklären?
    John fröstelte. Nach dem Ausbleiben des letzten Zeitsprungs hatte ihm die Erinnerung an seine Doktorarbeit eine gewisse Sicherheit gegeben, weil er den Verlauf der Expedition kannte. Er hatte gewusst, dass nach den Tücken der Anden-Überquerung eine ruhige, ungefährliche Passage folgte. Zumindest hatte er geglaubt, es zu wissen. Doch nun stellte sich mehr und mehr heraus, dass die schriftlichen Überlieferungen nicht mit der historischen Realität übereinstimmten. Zuerst die Schrumpfköpfe, jetzt der frühzeitige Tod von Hernán Gutiérrez. Die Dinge entwickelten sich anders als erwartet.
    John traf eine Entscheidung: Obwohl er Neya in der Nacht die Halskette überlassen hatte, würde er sie nun doch von ihr zurückfordern. Er hasste den Gedanken, ihr dadurch wehzutun, gleichzeitig wusste er, dass es die einzig vernünftige Entscheidung war. In dieser Wildnis lauerten überall Gefahren. Es war ein unnötiges Risiko, länger als unbedingt nötig hier auszuharren. Sein Leben – das echte Leben, das er in London führte – war ihm dann doch zu wertvoll, um es leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
    Da er Neya aus den Augen verloren hatte, dauerte es eine Weile, bis er sie endlich fand. Angesichts der morgendlichen Kälte hatte sie sich in eine dicke Wolldecke gehüllt, auf dem Rücken trug sie wie üblich ein riesiges Bündel. Als John sich ihr näherte, legte sich ein erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht.
    »Ich hatte Angst um Euch«, sagte sie unumwunden. »Ihr wart die halbe Nacht weg. Ich befürchtete schon, Ihr würdet nicht mehr zurückkehren.«
    »Wie du siehst, bin ich wohlauf.« John nahm sie am Arm und löste sich ein paar Schritte von der Gruppe, um ungestört mit ihr reden zu können.
    »Ich habe mitbekommen, dass ein Wachmann von einem Raubtier getötet wurde«, sagte Neya. »Was genau ist geschehen?«
    »Es gab nicht nur einen Toten, sondern zwei. Den anderen hat die Bestie verschleppt, weshalb wir sie verfolgen mussten.« Er gab ihr einen kurzen Abriss über die nächtlichen Ereignisse. Die blutigen Details ließ er allerdings weg, nicht zuletzt, weil er selbst nicht mehr daran erinnert werden wollte.
    Dennoch legte sich ein finsterer Schatten auf Neyas Antlitz. »Der Wald ist böse«, raunte sie. »Überall lauert der Tod, aber das wollt ihr Spanier ja nicht wahrhaben. Ihr seid geblendet von der Aussicht auf Gold. Von dieser Expedition wird niemand lebend zurückkehren. Niemand!«
    John schwieg. Neya war sich der Hoffnungslosigkeit dieser Expedition also vollauf bewusst. Umso schäbiger fühlte er sich bei dem Gedanken, sie ihrem Schicksal zu überlassen, während er sich selbst durch einen Zeitsprung in Sicherheit bringen wollte. Doch sein Entschluss stand fest. In dieser Welt war er ein Eindringling, er gehörte nicht hierher. Vielleicht war seine Entscheidung feige – er musste sich eingestehen, dass Angst dabei durchaus eine Rolle spielte. Aber je länger er hierblieb, desto größer wurde schließlich auch die Wahrscheinlichkeit, dass er durch sein aktives Eingreifen den Verlauf der Geschichte veränderte – mit unabsehbaren Folgen für die Nachwelt.
    Nein, ich muss schleunigst wieder zurück.
    »Hast du den Glücksbringer noch?«, fragte er. »Die Kette mit dem Kreuz meine ich.«
    »Gewiss.«
    »Tu mir den Gefallen und gib ihn mir.«
    Wortlos zog die Frau die Kette über den Kopf und reichte sie ihm. John seufzte, als er in ihre traurigen Augen sah. Ihm lagen Dutzende von Erklärungen auf der Zunge, aber keine davon schien ihm geeignet, Neya auf das vorzubereiten, was gleich passieren würde. Wie sollte er ihr nur klarmachen, dass sie in wenigen Sekunden einem völlig anderen Menschen gegenüberstehen würde, und das, obwohl er sich optisch nicht verändert hatte? Vermutlich würde sie die Welt nicht mehr verstehen.
    John fühlte sich elend, aber er hatte keine Wahl. Da Worte nicht zu erklären vermochten, was er in diesem Moment fühlte, beugte er sich einfach zu Neya und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund. Dann drückte er die Querstreben des Messingkreuzes in seiner Hand zusammen so fest er konnte.
    Nichts

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