Incognita
Besser gesagt fortgeschleift. Am Rand des Lichtkreises, den die Fackel in die Finsternis warf, tauchte hinter einem Gebüsch eine große schwarze Katze mit kräftigen Muskeln, langem Schwanz und glänzendem Fell auf: ein Jaguar. Seine Reißzähne hatte das Tier in Gutiérrez' rechten Arm geschlagen. Erstaunlich mühelos zerrte es den Leichnam davon. Mit kraftvollen Sätzen entschwand es in den nächtlichen Wald.
Hinter John waren lautstarke Stimmen zu hören: »Verfolgt die Bestie, sie darf uns nicht entkommen! Sie hat zwei Kameraden auf dem Gewissen!« Die Konquistadoren stürmten dem Jaguar mit gezogenen Waffen hinterher. Sie brüllten, schwenkten ihre Fackeln und Schwerter und schossen blindlings ihre Pfeile und Armbrustbolzen in die Nacht.
John zögerte. Die Vorstellung, dass der Jaguar Hernán Gutiérrez in eine Höhle oder auf einen Baum zerren würde, um ihn dort wie ein erlegtes Wild zu fressen, bereitete ihm Übelkeit. Dass der Mensch plötzlich nicht mehr am Ende der Nahrungskette stand, sondern mittendrin, passte nicht in sein modernes Weltbild. Aber hier draußen im Wald herrschten andere Gesetze. Die Ereignisse dieser Nacht hatten ihm das aufs grausamste vor Augen geführt.
Mit erhobenem Schwert rannte auch er dem Jaguar hinterher.
Kapitel 11
Dichter Frühnebel waberte durchs Lager, träge, zäh und unangenehm kühl. Vereinzelt waren die Schreie von Vögeln und Affen zu hören. Heute klangen sie eher wie Trauergesang.
John hatte den Rest der Nacht auf den Beinen verbracht, nun fühlte er sich bis auf die Knochen ausgelaugt. Stundenlang war er mit dem Verfolgertrupp auf der Suche nach Hernán Gutiérrez durch den Wald geirrt. Als die Bluthunde erst einmal Witterung aufgenommen hatten, waren sie kaum noch zu bremsen gewesen. Die Hundeführer und der Rest des Trupps hatten größte Schwierigkeiten gehabt, mit ihnen Schritt zu halten.
Letztlich hatten sie den Jaguar tatsächlich wieder in die dunkle Weite des Waldes zurückdrängen können, sogar ohne seine Beute. Doch das, was er von Hernán Gutiérrez übrig gelassen hatte, war kaum mehr als menschlich zu bezeichnen. Die Männer hatten beschlossen, den Toten gleich an Ort und Stelle zu begraben und ihm auf diese Weise die letzte Christenehre zu erweisen.
Jetzt stand John inmitten der spanischen Soldaten, die in mehreren Reihen einen Halbkreis um einen etwa vierzigjährigen Mann in graubrauner Leinenkutte bildeten: Gaspar de Carvajal, der Dominikanermönch, der den Zug als Geschichtsschreiber und geistlicher Beistand begleitete. Außerdem stand Carvajal im Ruf, ein ausgezeichneter Kämpfer zu sein. Und wenn John in die Augen des Mönchs blickte – in diese wilden, entschlossenen, geradezu fanatischen Augen –, zweifelte er keinen Moment daran, dass Gonzalo Pizarro sich für diese Reise den Richtigen herausgesucht hatte. Alles an Carvajal verströmte Mut, Willensstärke und beinahe göttliche Autorität. Genau diese Ausstrahlung hielt die spanischen Soldaten nach dem tragischen Unglück der vergangenen Nacht zusammen.
Carvajal stand neben einem aufgehäuften Erdhügel, an dessen Kopfende ein schlichtes, aus zwei armdicken Ästen zusammengebundenes Holzkreuz steckte. Darin waren mit groben Messerschnitten zwei Initialen eingeritzt worden: E.V. – Emilio Vargas. Er war in der Nacht das zweite Opfer des Jaguars gewesen.
John lauschte der Totenmesse aufmerksam, und obwohl Carvajal sie teils auf Lateinisch hielt, fühlte er sich nach und nach tatsächlich ein wenig besser. Die Worte des Gottesmannes spendeten ihm auf wundersame Weise Trost, und so ging es wohl den meisten. John beobachtete, wie die Konquistadoren sich allmählich von dem Schock erholten, insbesondere jene, die die entstellten Leichname mit eigenen Augen gesehen hatten. Carvajals Messe machte neuen Mut.
Erst als der Zug den Weitermarsch antrat, verflüchtigte sich die Magie der geistlichen Worte, und Johns eigene Gedanken übernahmen wieder die Regie. Ein ums andere Mal spielten sich vor seinem geistigen Auge noch einmal Szenen der vergangenen Nacht ab. Insbesondere Hernán Gutiérrez' Tod beschäftigte ihn. Trotz des Schlafmangels und der damit verbundenen Konzentrationsschwäche wurde ihm allmählich klar, dass damit etwas nicht stimmte. Etwas Wesentliches! Überrollt von den Ereignissen, hatte er in den letzten Stunden weder Zeit noch Muße gehabt, über das Unglück nachzudenken, jetzt jedoch, während er im Tross durch den nebelverhangenen Urwald stapfte und alles Revue
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