Incognita
anders verdient! Doch die Schmerzensschreie der Indios erinnerten ihn an sein eigentliches Vorhaben. Er schwenkte die Waffe herum und zielte in Richtung des Scheiterhaufens, wo die Gefesselten wie von Sinnen brüllten und sich in ihrem Schmerz wanden, darunter auch Neya. John biss die Zähne zusammen und schoss. Surrend löste sich der Bolzen von der Armbrust, eine Sekunde später war Neya von ihren Leiden befreit.
Obwohl John lediglich aus Barmherzigkeit gehandelt hatte, war er einen Moment lang schockiert über sich selbst. Er hatte einen Menschen getötet, eine Frau, für die er Zuneigung empfunden hatte, vielleicht sogar Liebe. Aber er hatte keine Wahl gehabt. Und die blieb ihm immer noch nicht, denn es gab noch mehr Indios, die Todesqualen litten. Rasch spannte John die Armbrust erneut. Während er zum zweiten Mal anlegte, um grausame Barmherzigkeit zu üben, sah er im Augenwinkel, wie La Roqua von rechts auf ihn zustürmte. John drückte ab, tötete einen Lamaführer, spannte die Sehne ein drittes Mal. Es gelang ihm gerade noch, den nächsten Bolzen einzulegen, doch für einen gezielten Schuss reichte es nicht mehr. La Roquas massiger Körper traf ihn wie ein Rammbock in die Seite und riss ihn von den Füßen. Der Aufprall raubte ihm den Atem, machte ihn benommen. Einen Moment lang wurde ihm schwarz vor Augen.
Dann spürte er einen Schlag ins Gesicht, und der Schmerz ließ ihn wieder zu sich kommen. La Roqua saß jetzt rittlings auf ihm, schwer wie ein Felsbrocken, die Faust schon zum nächsten Hieb erhoben. Unter Aufbietung all seiner Kräfte gelang es John, sich mit einer abrupten Bewegung unter dem Spanier wegzudrehen und ihn auf diese Weise aus dem Gleichgewicht zu bringen. La Roqua ruderte mit den Armen und fiel zur Seite. Das war Johns Chance. Sein erster Impuls war, sich auf seinen Gegner zu werfen, doch dann fiel ihm auf, dass er die Armbrust noch immer in der Hand hielt. Wie durch ein Wunder war auch der Bolzen noch eingespannt.
In Johns Kopf rasten die Gedanken. La Roqua war ein Schwein, das den Tod verdiente. Gleichzeitig wusste er: Wenn er jetzt abdrückte, würde er den Abend ebenfalls nicht mehr erleben. Pizarro würde ihn vierteilen oder rädern lassen. Die nackte Angst ließ John zögern. Dann war es auch schon zu spät, und das Schicksal nahm seinen Lauf. La Roqua, der die drohende Gefahr erkannt hatte, wirbelte – noch immer auf dem Boden liegend – um die eigene Achse, wobei er mit dem Stiefel nach der Armbrust trat. Noch während John versuchte, die Waffe wieder unter Kontrolle zu bringen, löste sich der Schuss. Der Bolzen surrte los – genau in Richtung der Konquistadoren. Von da an nahm John alles wie in Zeitlupe wahr: die düsteren Gesichter der Spanier, die den Kampf zwischen La Roqua und ihm beobachtet hatten … die plötzlich aufkommende Panik all jener, die in der Schusslinie standen … die hastigen Bewegungen, mit denen sie sich in Sicherheit zu bringen versuchten … Gaspar de Carvajal, der zu spät reagierte … den Bolzen, der schnurgerade auf ihn zugeflogen kam.
Der Dominikanermönch stieß einen spitzen Schrei aus, als das Geschoss ihn im Gesicht traf. Er riss die Hände nach oben und wurde nach hinten geschleudert. Seine Kutte bauschte sich auf wie von einem Windstoß ergriffen. Reglos blieb er am Boden liegen.
John war wie gelähmt, die anderen Spanier ebenfalls. Doch ihre Schreckensstarre hielt nicht lange an. Kaum hatten sie begriffen, was vorgefallen war, brüllte La Roqua vom Boden aus: »Er hat Pater Carvajal umgebracht! Ergreift ihn! Auch er soll brennen!«
Während die noch lebenden Indios sich vor Schmerzen die Seele aus dem Leib schrien, setzten die spanischen Soldaten sich in Bewegung und rannten auf John zu. Die Bluthunde kläfften und stürmten ebenfalls drauflos.
Sie werden mich zerfleischen!, durchfuhr es John. Und wenn ich danach noch lebe, werden sie mich auf den Scheiterhaufen werfen!
Obwohl er wusste, dass er den Hunden niemals würde entkommen können, wollte er instinktiv davonlaufen. Dann besann er sich jedoch eines Besseren. Falls er überhaupt eine Chance hatte, dann bestand sie im Gegenangriff!
Er riss sein Schwert aus der Scheide und warf sich mit einem mächtigen Satz gegen Jorge La Roqua, der inzwischen wieder auf die Beine gekommen war, aber sofort wieder ins Taumeln geriet und erneut stürzte. Damit hatte der Spanier offenbar nicht gerechnet. John wälzte sich auf ihn und drückte ihm die Klinge an die Kehle. »Blast den
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