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Incognita

Incognita

Titel: Incognita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Gottes Gebot in Frage zu stellen, zumindest wenn es ihm so deutlich vor Augen geführt wurde wie eben. Nach einer Minute des Haderns kam er schließlich zu einer Entscheidung. »Ich gewähre Ortega freies Geleit!«, sagte er so laut, dass alle es hören konnten. Er spuckte die Worte beinahe aus, so schwer kamen sie ihm über die Lippen. »Niemand wird sich an ihm vergreifen, ist das klar?«
    John wagte es kaum, sein Glück zu fassen. Ein Teil von ihm war unendlich erleichtert über diese unerwartete Wendung, der andere Teil befürchtete, dass Gonzalo Pizarro nur bluffte oder dass die Konquistadoren seinen Befehl missachten könnten. Doch als John von Jorge La Roqua abließ, blieb er tatsächlich unbehelligt. Niemand schoss auf ihn, niemand griff ihn mit dem Schwert an, niemand hetzte die Hunde auf ihn. Er spürte, wie seine Knie zitterten. Er war dem Tod nur knapp entronnen, und das hatte er allein Gaspar de Carvajal zu verdanken.

Kapitel 13
    Der Stoßtrupp – oder besser gesagt das, was von ihm übriggeblieben war – setzte seinen Weg fort. Ein Teil der Lasten, die die Indios getragen hatten, wurde auf die Packlamas und Pferde verteilt. Was nicht unbedingt benötigt wurde, ließen die Spanier zurück, darunter ein kleines, mit Intarsien verziertes Tischchen mit dazu passenden Stühlen – Luxus, auf den Gonzalo Pizarro bis dato auch im Urwald nicht hatte verzichten wollen. Jetzt musste er sich davon trennen.
    Es war ein eigenwilliges Bild, das sie hinterließen. Der Baum mit den verkohlten Leichen, daneben das Ziertischchen mitsamt Stühlen, umstellt mit einigen stramm gepackten Bündeln und Säcken, für die im Trupp kein Platz mehr gewesen war. Wer nicht wusste, was sich hier abgespielt hatte, konnte dieses Arrangement unmöglich korrekt interpretieren.
    John durchlebte die nächsten Tage, als lebe er unter einer Glasglocke, abgeschirmt vom Rest der Welt. Er hatte das Gefühl, dass mit Neyas Tod auch ein Teil von ihm gestorben war. Die Trauer war wie eine unsichtbare Mauer, die ihn von den anderen trennte und die noch dadurch verstärkt wurde, dass die Konquistadoren deutlich auf Abstand gingen. Sie hielten sich zwar weiterhin an den Befehl, John keine Gewalt anzutun, aber sie warfen ihm oft feindselige Blicke zu, im besten Fall ignorierten sie ihn. John war das nicht einmal unrecht. Im Moment wollte er so wenig wie möglich mit den Mördern Neyas zu tun haben.
    Der Einzige, zu dem er in diesen Tagen Kontakt hielt, war Gaspar de Carvajal, nicht nur, weil er ihm sein Leben verdankte, sondern auch, weil er sich ihm gegenüber schuldig fühlte. Der Armbrustbolzen hatte den Dominikaner so unglücklich an der Schläfe getroffen, dass er mit dem linken Auge nichts mehr sehen konnte. Obwohl es ein Unfall gewesen war und der Mönch ihm nichts nachtrug, fühlte John sich dafür verantwortlich.
    Dass die Dokumentation der Ereignisse wieder einmal nicht mit dem übereinstimmte, was er heute erlebt hatte, verwunderte ihn inzwischen kaum noch. Vieles auf dieser Reise war anders, als er es erwartet hatte, so auch der Zwischenfall mit Carvajal. Laut schriftlicher Überlieferung hätte der Mönch erst ein Jahr später sein Augenlicht verlieren müssen, und nicht durch den Armbrustbolzen eines Spaniers, sondern durch einen Pfeil, den er bei einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Eingeborenen abbekam. Immer mehr Puzzleteile passten bei dieser Reise nicht zusammen. Die Frage war nur: weshalb?
    Am Abend des achtzehnten Tages nach Verlassen des Hauptzugs, also anderthalb Wochen nach dem gewaltsamen Tod der Indios, saßen die Mitglieder des Stoßtrupps am Lagerfeuer und unterhielten sich. Wie üblich wurde John dabei ausgegrenzt, was ihn unberührt ließ. Er hatte sich mittlerweile an die Isolation gewöhnt und bemühte sich auch nicht um eine Besserung der Situation. Er hasste Pizarro und La Roqua für ihre Grausamkeit, alle anderen waren ihm gleichgültig.
    Während er zwischen den übermannshohen Wurzelsträngen einer Urwaldfeige hockte und Suppe aus seiner Schale trank, beobachtete er, wie Gaspar de Carvajal sich nach dem Essen aus der Gruppe der anderen löste und sich etwas abseits an einem geschnürten Bündel zu schaffen machte. Endlich schien er gefunden zu haben, wonach er suchte. Er förderte ein kleines, in Leder gebundenes Buch zu Tage, außerdem ein Etui, ebenfalls aus Leder. Damit ausgerüstet setzte er sich auf einen umgestülpten Kupferkessel. Ein Fass Schießpulver diente ihm als Ablage für das Etui, aus

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