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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Hügelketten abzusuchen, ohne seinen Messtrupp im Fernrohr zu entdecken. Aber jetzt, endlich, so stelle ich mir vor, macht der britische Wissenschaftler in der dichten Vegetation, die den Berg überzieht, eine lichte Stelle aus. An den folgenden Tagen sieht er die Schneise langsam wachsen, die sein Trupp auf dem fernen Berggrat in den Wald treibt. Er beobachtet,
wie sie sich langsam in eine kleine Lichtung verwandelt. Und wie drei Morgende später im Glas seines Fernrohrs die Fahne des Trigonometrical Survey auf der Bergkuppe gehisst wird.
    Nun kann Lambton mit seiner Arbeit beginnen. Er kann die Winkel zwischen diesem Vermessungspunkt und einem anderen, bereits eingerichteten, Observatorium vermessen. Und damit ein weiteres Dreieck vervollständigen, das als Grundlinie für die nächsten Messungen dienen wird. Dann kann er seine Trupps erneut in den Dschungel schicken, ihnen hinterherreisen und darauf warten, dass sie irgendwo wieder aus den bewaldeten Bergkuppen auftauchen wie ein Maulwurf aus der Erde.
     
    Als ich auf der Steinbank aufwache, sehe ich kaum etwas. Nebelschwaden ziehen über den Pass. Das Land dahinter ist braun, feucht und eben. Einzelne Buschgruppen ragen aus niedrigem Gestrüpp. Die englischen Kolonialherren haben diese Region »Little England« genannt. Wenn es noch ein wenig kühler wäre, könnte man sich vorstellen, man wanderte durch die herbstliche Lüneburger Heide. In der eintönigen Landschaft finde ich keine Orientierungspunkte. Ich weiß nicht mehr, auf welcher Straße ich mich genau befinde. Ich irre durch treibende Nebelfetzen, erstehe in einem namenlosen Dorf zum späten Frühstück zwei Gläser Milchtee und warme, grüne und in dickem Teig frittierte Chilischoten.
    Gegen Mittag erreiche ich zu meiner Überraschung die Stadt Berikai, ein weithin ausgestreuter Moloch aus schmalen, niedrigen Häusern an Kopfsteinpflastergassen und Sandwegen. Eine halbe Stunde lang laufe ich im Kreis durch das undurchschaubare Straßennetz, bevor ich den Busbahnhof finde. Ich frage die Wartenden nach dem Weg nach Kolar. Sie lächeln mich an, ganz andere Gesichter als jenseits des Passes: genauso
dunkel, aber schmaler und die Züge kantiger. Keiner antwortet. Schließlich weist mir ein Betelnussverkäufer aufmunternd nickend einen Weg nach Nordosten.
    Wider meinem Instinkt laufe ich aus der Stadt hinaus. Nach dem Studium meiner Karten kann ich mir kaum vorstellen, dass es in dieser Richtung eine Straße nach Kolar gibt. Zwei Stunden später erreiche ich auf einer fast unmerklichen Schwelle in der mittlerweile nebelfreien Ebene ein paar übermannshohe, verfallene Torpfeiler; sie mögen einmal in der Mitte eines langen Zauns gestanden haben. Davor ragt ein verwitterter Grenzstein aus dem Gras. »Mysore« ist hochkant in lateinischen Versalien in die eine Seite des Klotzes gehauen, »Madras« in die andere. Dies ist die alte Grenze zwischen den heutigen Bundesstaaten Tamil Nadu und Karnataka. Ist dies endlich der richtige Weg?
    Neben dem Stein hockt ein Alter mit blauem Turban und wartet auf eine Mitfahrgelegenheit. Ich weise nach Norden und frage wieder: »Kolar?«
    Er schüttelt den Kopf und sagt: »Berikai.«
    Ich habe es satt. Ich drehe auf der Ferse um und wandere zurück nach Berikai. Kolar kann warten. Ich beschließe, für ein paar Tage nach Bangalore zu fahren. Ich brauche dringend eine Pause.

Tanzen verboten
    In Bangalore ziehe ich in ein Appartement, das von einem indisch-italienischen Seniorenpaar geführt wird: zwei Badezimmer, zwei Schlafzimmer, Kühlschrank, Bügelbrett, ein französisches Kaffeeservice mit angeschlagenen Untertassen, muffige, mit blauer Plastikfolie ausgelegte Holzschränke, ein schwarzer Edelholzschreibtisch mit Intarsien, korbbezogene Stühle, bunte Eierbecher, ein elektronischer Wasserkocher. Auf dem Esstisch steht neben dem Brotkorb eine aufgeklappte Broschüre des Hauses, die mit dem Schriftzug »Urlaub wie auf Elba« wirbt. Am ersten Abend benutze ich das Badezimmer zum Innenhof und lasse mir von einem rot-weiß uniformierten Boten mit Mofa labberige Büffelsteaks, Pizza mit Frischkäse und Pommes liefern, trinke vor dem laufenden Fernseher erst Instantkaffee zu Bollywoodschnulzen und dann Bier zu den Meditationsanweisungen eines graubärtigen Halbnackten, bis mit einem Knall das Licht ausgeht. Im Dunkeln kann ich noch die blauen Funken von der angezapften Leitung am hölzernen Elektromast vor der Villa gegenüber sprühen sehen. Dann kompensiert ein schlagartiger,

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