Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
bleierner Schlaf die körperlichen Anstrengungen meiner Tage und Stunden auf dem Asphalt und meiner lärmigen Nächte in provinziellen Hotelzimmern.
Ich wache erst spät am Morgen auf und weiß nicht, wo ich bin. In Hamburg, in Delhi, in einem Hotel auf dem indischen Land? Ich benutze zur Abwechslung das Badezimmer
zur Straße hin und beschließe, einen entspannenden E-Mail-Vormittag einzulegen. Das Büro der Vermieterin liegt neben dem Eingang zu meinem Appartement. »Internetzugang? Kein Problem«, hat mir die breitschultrige alte Dame am Vorabend versprochen und sich kokett ihr langes gelbes Sommerkleid zurechtgezogen. »Wir sind schließlich in Bangalore. « Ich betrete einen Raum, in dem sich zwei mittelalte Herren in Freizeithemden über zwei Schreibtische voller Ordner und Papierstapel bücken. In der hintersten Ecke sitzt ein kräftiger, angegrauter Kotelettenträger, der aussieht wie eine Mischung aus Salman Rushdie und Elton John. Er weist mir einen Rechner an einem dritten Schreibtisch zu. Aber der Browser baut keine Verbindung auf. »Die Leitung ist immer mal gestört«, sagt Salman-Elton. »Versuchen Sie es heute Nachmittag noch mal.« Er beschreibt mir den Weg zu einem Internetcafé. »Die Hauptstraße runter und dann die vierte Straße links.«
Ich schlendere durch ein wenig strukturiertes Wohnviertel. Mein Appartement liegt inmitten einer verhältnismäßig ruhigen Siedlung aus Ein- und Mehrfamilienhäusern, teilweise mit kleinen grünen Vorgärten, teilweise von blickschützenden Mauern umgeben, die jäh durchschnitten wird von einer vierspurigen, von modernen Bürogebäude-Glasfronten gesäumten Piste, über die sich im Schritttempo ein hupender Strom aus Autos, Motorrädern und Zweitaktern wälzt. Ich laufe den Fußweg hinab. Ich bin doppelt so schnell wie die vehikule Masse und dennoch fast der einzige Fußgänger. In der Seitenstraße finde ich einen engen, dunklen Kiosk voller Videos und DVDs. Der Besitzer vertreibt einen Jungen, der auf einem PC-Bildschirm Ritter und Kriegselefanten auf eine römische Arena anstürmen lässt, damit er mir Platz macht. Aber auch hier funktioniert die Leitung nicht. Genervt laufe ich zurück durch
das Wohnviertel. Auf der anderen Seite der Durchgangsstraße, an einem überdachten, im Kolonialstil erbauten Marktplatz mit kleinen Geschäften und Säulengängen, in denen schwarz gekleidete Muslime frittierte Teigtaschen, Tee, Leder- und Schreibwaren verkaufen, halb verdeckt von einem zwei Meter langen, ebenfalls schwarzen Baumwollbanner, auf dem die schiitische Gemeinde in weißer Schrift proklamiert »Krieg ist nicht Gottes Wille«, finde ich einen Laden, in dem ich mich zwischen Sperrholzwänden an einen von fünf Flachbildschirmen setze und meine E-Mails abrufe. »Viele Grüße aus der Hightechmetropole Bangalore«, schreibe ich unter meine Nachrichten. In der Provinz war es deutlich einfacher, ins weltweite Netz vorzustoßen.
Am Abend wandele ich über die MG Road, benannt nach Mahatma Gandhi. Ganz sicher wäre er entsetzt über die Dekadenz und Seelenlosigkeit, mit der sein Name hier verbunden wird. Schrille Einkaufszentren reihen sich an Elektrogeschäfte, Supermärkte, Modehäuser, Multiplexkinos, Fastfoodrestaurants, Bars und Pizzerien. Feiste, dralle Jünglinge flanieren in Shorts und weißen Markenturnschuhen zwischen braven Laptopträgern in Bundfaltenhose und lässigen Machos mit weit geöffnetem Karohemd. Gruppen von Mädchen mit Lackgürteln und knappen Tops über dem fest verschnürten Oberleib bummeln mit wüst geschminkten jungen Muslimas in grellen Schleiern neben einer europäischen Arbeitsmigrantenfamilie mit Klappkinderwagen. Die meisten Passanten schleppen Bündel von Plastiktüten aus den Mode-, Hightech-und Delikatessenläden. Nicht die billigen, dünnen, blass einfarbigen Plastiktüten, die es auf dem Land gibt, sondern die reißfeste Variante, die erst vor zehn Jahren ihren Siegeszug über die indischen Metropolen antrat.
In einem zu einer internationalen Kette gehörenden Open-Air-Fastfoodcafé ordere ich mit einem gelben Bestellschein an einem Glastresen ein »Sandwich Chicken Tikka« und setze mich zu Mohammed und Said an den wackelnden Metall tisch. Beide haben halblange Haare und Viertagestoppeln. Mohammeds hellbraune Augen leuchten aus dunklen Augenringen, er trägt eine braune Cordjacke, Stoffsportschuhe und eine enge Jeans. Said hat eine flache Umhängetasche mit Fransen um die schmale Schulter. Wir reden über islamische
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