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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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sarkastisch. »Irgendwann wird die sexuelle Revolution auch Indien erreichen.«
    Der zweite Teil des Konzerts rauscht an meiner im Alkohol ertrinkenden Wahrnehmung vorbei. Wider meine Gewohnheit rauche ich mit dem Bildhauer eine Packung Classics leer. Dann steigen wir auf Importware um.
    Bei der ersten Zugabe setzt sich eine schlanke Mittzwanzigerin zwischen uns, die sich als Lokaljournalistin ausgibt. Sie heißt Jagathi. Je genauer ich ihr mein Projekt erkläre, desto näher rückt sie.
    »Ich fahre in zwei Wochen nach Hyderabad, vielleicht können wir uns da treffen.« Sie schiebt eine Visitenkarte über den Tresen.
    »Ja, vielleicht«, höre ich mich sagen. Und weiß ganz genau, dass jeder Flirt mit einer Inderin, auch in einer Großstadt wie Bangalore, nicht mehr sein kann als nur das: ein unverbindlicher Kontakt. Es sei denn, man möchte sie heiraten.
    Der Ober legt die Quittung auf den Tresen. »Es ist Sperrstunde. Die Polizei steht vor der Tür.« Jetzt erst bemerke ich, dass das Maya fast leer und in grelles Licht getaucht ist. Aber ich kann nicht bezahlen. Ich habe nur meine EC-Karte und zu wenig Bargeld dabei, ich habe für den Abend einfach nicht mit einer solchen Summe gerechnet. Vergeblich frage ich nach dem nächsten Bankautomaten. Der Bildhauer legt mit unberührtem Gesichtsausdruck ein paar Scheine hin und gibt eine letzte Runde Whiskey für uns aus. »Die paar Kröten«, sagt er. Dann beginnt er einen Monolog über Salvador Dali. Die Sympathie des katalanischen Surrealisten für den Diktator Franco hält er schlicht für bedeutungslos. »Ein Maler ist nur sich selbst und Gott verantwortlich.«
    Verwirrt und angewidert verabschiede ich mich. Ich stolpere durchs Treppenhaus, durch Tiefgarage und Hintereingang auf die leer gefegte MG Road und falle in ein Dreiradtaxi. Für einen unverschämten Preis lasse ich mich durch die kaum
befahrenen Straßen in mein Appartement chauffieren, über deren von Benzin und Zweitaktergemisch geschwängertem Asphalt der Geruch von Magnolien aus den Gärten der Villen hängt. An einer Ampel überholt uns ein schneeweißes Taxi. Darin sitzen ins Gespräch vertieft der Bildhauer und die Journalistin. Ich bin froh, wieder allein zu sein.

Risiko Management
    Am zweiten Tag in Bangalore bin ich zeitig genug wach, um mein Frühstück in dem dafür vorgesehenen Restaurant einzunehmen. Es befindet sich eine Nebenstraße weiter, im Garten der zweiten Appartementanlage derselben Eigentümer. Die Vermieterin diskutiert mit einem jungen spanischen Touristenpaar. Heute trägt sie ein geblümtes Kleid und einen Strohhut auf dem Kopf. »Ja«, sagt sie, »ich habe mit dem Nachbarn gesprochen. Er hat versprochen, Rücksicht zu nehmen. Aber was soll er tun, er muss sein Dach reparieren lassen, die Arbeiter können doch nicht warten, bis Sie ausgeschlafen haben. Wollen Sie vielleicht ein anderes Zimmer, in der anderen Straße?« Ich schlage mein Frühstücksei auf. »Die Probleme hier sind immer die gleichen«, sagt sie. »Ich lebe seit dreißig Jahren in Bangalore. Aber wie kann man sich daran gewöhnen? Manchmal könnte ich einfach nur schreien. Weil nichts funktioniert und nichts geregelt ist. Weil der Strom ständig ausfällt und das Internet, weil der Verkehr den ganzen Tag stillsteht. Einmal im Jahr muss ich einfach weg hier, jeden Sommer mache ich das. Für ein paar Monate fahre ich nach Hause, nach Italien, zu meinen Schwestern und meinem Vater. Anders halte ich es nicht aus.«
    In meinem Appartement mache ich mich fein für den Tag. Ich ruiniere mein angeblich knitterfreies, synthetisches Tropenhemd, das ich für offizielle Anlässe eingesteckt habe, mit dem nicht justierbaren Bügeleisen und nehme meine per Hand gewaschene Zweithose von der Leine auf dem Balkon.
Ich will ins Herz des indischen IT-Booms vorstoßen, in die Keimzelle der subkontinentalen Globalisierung: nach Electronics City am Rand der Stadt, dem Zentrum des internationalen Outsourcing. Ich habe eine Verabredung mit Katy. Sie ist Managerin bei einem Schweizer Softwarekonzern.
    Das Dreiradtaxi holpert über die vierspurigen Schlaglochpisten der östlichen Innenstadt, vorbei an Kolonialfassaden mit zerbröselndem Stuck und blätternden Holzläden in schmalen, hohen Fenstern, vorbei am altehrwürdigen Carl-Zeiss-Gebäude gegenüber einer müllübersäten Brachfläche. Ein Mann in einer roten »Ferrari«-Jacke, auf der Schulter den das »e« ignorierenden Schriftzug »Michal Schuhmacher«, schimpft aus unerfindlichen

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