Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Mystik und die Verse des Heiligen Kabir, sie empfehlen mir die traurigen Gesänge der Sufi-Musikerin Abida Parvin, rauchen Filterzigaretten und trinken Cappuccino aus überdimensionalen Pappbechern. Mohammed ist Inder, Said kommt aus Kairo und studiert hier. »Weil Bangalore einen unglaublich guten Ruf hat, wenn es um IT geht. Bis heute.«
»Aber früher war alles besser«, sagt Mohammed. »Die Leute haben zusammengehalten. Jetzt denkt jeder nur noch an sich selbst.«
Im Shoppingkomplex neben dem Café entdecke ich in einem Schaufenster ein Plakat: Unter der spätimpressionistischen Zeichnung einer leicht bekleideten, eine Zigarette mit Spitze rauchenden Dame wird ein Konzert ankündigt. Hotel Beluga heißt die Band. Per Lift lasse ich mich in den Lila Club im dritten Stock des Komplexes fahren.
Das Ambiente ist gediegen. Vier-Meter-Salzwasseraquarien zieren die asymmetrischen Wände. Der zentrale Tresen ist geschwungen, klassisch bestrahlt und ganz in Weiß gehalten. In den Ecken stehen hellblaue Plüschsessel. Der Gig hat gerade begonnen. »Willkommen im Haus der Liebe!«, brüllt der Leadsänger. Er hat eine riesige, knochige Nase und eine
Afrofrisur. »Also, Jungs: Tanzt! Und Mädels: Immer schön artig bleiben!«
Eine verzerrte Gitarre setzt ein, aus dem dichten Rhythmus von Bass und Schlagzeug erhebt sich eine sphärische Geräuschkulisse. Mädchen in Schlaghosen und Batikblusen schwingen die schmalen Hüften. Junge Männer mit schwarzen Lederjacken wiegen ihre gepflegten, halblangen Haare zu den schweren Beats. Zwei Cocktails schlürfende ältere Herren mit Hawaiihemden wippen dezent in den Collegeschuhen. Die Szene wirkt, als hätte die Stammbelegschaft eines linken deutschen Jugendzentrums samt ihrer gutbürgerlichen Väter eine stylische Bar im Berliner Inviertel Mitte gestürmt. Die wilden Texte passen nicht zum feinen Ambiente, die Schlaghosen der Musiker haben Bügelfalten. Und ich genieße es, überhaupt nicht aufzufallen. Ich werde unsichtbar zwischen den Kulturen. Ich löse mich auf.
Mein Blick fällt auf eine langbeinige Schönheit mit tiefem Ausschnitt im ärmellosen Hemd, die sich über einen Laptop beugt. Damit wirft sie psychedelische Bilder an die Wand: Eine zuckende Roboterhand greift im Zeitraffer nach einem Muffin und legt ihn immer wieder auf den Tisch, eine finster blickende Wäscherin drischt in galoppierender Frequenz auf ein nasses Kleiderbündel ein.
Neben mir am Tresen lehnt ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit überweiten Hosen und kurz geschorenen Haaren. In seinem linken Ohr stecken drei schlichte silberne Ringe. Er hat gewaltige Schatten unter den Augen, trinkt sehr langsam Bier und raucht sehr schnell eine Zigarette der Marke Classic nach der anderen.
»Ist alles genau wie in Deutschland hier«, sage ich zu meinem Nachbarn. »Die Mädchen tanzen. Die Männer stehen rum und saufen.«
»Klar. Deshalb hat die Stadtverwaltung auch nur Frauen verboten zu tanzen, wo Alkohol ausgeschenkt wird. Verrückt, oder?« Seine Stimme ist so leise, dass ich mein Ohr immer wieder fast in seinen Ziegenbart tauchen muss. »Aber wie auch immer. Gegen die menschlichen Gene sind Gesetze machtlos.« Er schaut mit einem gleichmütigen Blick auf die Bilderflut an der Wand jenseits des Tresens. Ich winke einem livrierten Ober und bestelle Hähnchenschenkel zum frisch Gezapften.
Der Baggy-Jeans-Träger dreht sich wieder mit müde wirkenden Augen zu mir. »Die Verwaltungsbeamten Bangalores wollen unsere Kultur gegen den Westen verteidigen. Als wäre das nötig, als wären wir Chinesen. Wir kopieren nicht, wir interpretieren. Wenn überhaupt. Eigentlich setzt indische Kunst andere Prioritäten als die westliche.« Er reibt sich, die Zigarette in der Hand, die dicken Augenlider. »Ich bin Bildhauer und Maler. Surrealismus interessiert mich, deutsche Romantik. Expressionismus sagt mir gar nichts. Indern geht es immer um das Höhere. In der Kunst. Im Leben. Und nie um Persönliches.«
Ich gebe einen Whiskey aus und dann noch einen.
In der Pause lungert die Band am Tresen, trinkt Mineralwasser, Cola, Gin Tonic. »Wie sieht’s denn bei euch mit Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll aus?«, frage ich. Der Schnaps ist mir zu Kopf gestiegen.
Der Sänger muss lachen: »Gras und Pilze zählen doch nicht, oder?«
»Und Sex?«
»Ja, Jungs, doch, doch«, sagt der Sänger. Seine grünen Augen fixieren die anderen Bandmitglieder. »Ich habe eine Freundin. Wusstet ihr das nicht?« Der Schlagzeuger grinst
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