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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Gründen mit einem Alten, der einen abgeschnittenen Eisenträger als Gehstock benutzt. Im Drahtzaun vor dem unbebauten Grundstück hängt ein Schild: NOT for Sale . Darunter sind eine Telefonnummer und eine Adresse in Hyderabad geschrieben.
    Der Zweitakter schert auf den auch hier sich chronisch im Bau befindlichen National Highway 7 ein. Die Landschaft links und rechts der Autobahn wirkt künstlich. Kahle Baumstämme ragen aus dem Wasser eines riesigen, spiegelglatten Stausees. Zwei verlassene Ruderboote in mattem Blau liegen am diesseitigen Ufer. Auf einem säuberlich gefegten Rundweg wandelt eine Muslima in schwarzer Burka um das Reservoir. Dahinter erhebt sich nackt und leuchtend weiß eine Trabantenstadt, die an die deutsche Architektur der 1970er-Jahre erinnert.
    Wir passieren anonyme Shoppingklötze. Auf verdunkelten Glasfronten steht »RMZ Infinitive Group«, »Ernst & Young« oder einfach »Bar«. Ein Geschäft namens Kid’s Kemp ist komplett als Ritterburg inszeniert: Zinnen sitzen auf den Mauern, Schießscharten klaffen in runden Türmen. Die Neubauten verstecken sich zu Dutzenden hinter regengeschützten Gerüsten
und Wellblechwänden, aber die Miniaturslums dazwischen – kleine Zeltsiedlungen aus blauen und gelben Plastikplanenkonstruktionen – präsentieren sich ganz ungeniert.
    In Electronics City sind die Straßen ausladend und schattig und von den Firmenschildern der internationalen IT-Branche gesäumt: Hewlett Packard, Infosys und Motorola lese ich – mehr als hundert internationale Konzerne haben hier ihre Niederlassungen.
     
    Auch für den Great Trigonometrical Survey ist Bangalore eine wichtige Station. Es ist Drehkreuz sowohl für die Ost-West-Vermessung 1803 bis 1805 als auch für die Nord-Süd-Vermessung entlang dem 78. Längengrad in den darauffolgenden Jahren. Aber Städte wie Bangalore sind auch eine willkommene Abwechslung für die Männer, die monatelang Schneisen in den Busch geschlagen und im Freien oder in selbst gebauten Behausungen genächtigt haben. Schätzungsweise achtzig Mitarbeiter stark sind die Trupps, die von der Vermessung aus dem Feld kommen. In die Metropolen, in denen sie Station machen, lassen sie oft ihre Familien nachkommen. Affären zwischen den Vermessern und Inderinnen sind nicht selten.
    So auch für Expeditionsleiter Lambton, der in Indien immerhin drei Kinder zeugte. Unklar bleibt, wie freizügig Lambton wirklich war. Seinem Wegbegleiter John Warren zufolge war er »in Gesellschaft von Frauen eher gehandicapt«. Lambtons Nachfolger dagegen, der steife und fast emotionslose Everest, beschreibt seinen Vorgänger geradezu als Frauenhelden. Bekannt ist jedenfalls die Liaison Lambtons mit einer Inderin namens Kummerboo. Lambton weilte in Pondicherry an der indischen Ostküste, als sie 1809 einen Sohn zur Welt brachte, der den Namen seines Vaters bekam. Bekannt ist
auch Frances, eine Dame möglicherweise britisch-indischer oder britisch-französischer Herkunft, die ein Jahrzehnt später eine Tochter und bald darauf einen Jungen gebar, deren Vater William Lambton war.
    Der Leiter des Survey of India verschwieg seine Verhältnisse nicht, ganz im Gegenteil: Er ließ alle drei Kinder taufen und umgab sich gern mit ihnen. Sein Sohn wurde schließlich als »3. Unterassistent« auf die Gehaltsliste des väterlichen Unternehmens gesetzt. Da war der Sprössling gerade mal elf Jahre alt.
    Aber Lambton ist nicht zum Vergnügen in Bangalore. Nachdem der Survey die Vermessung von der ersten Grundlinie in Chennai mit Peilungen und Berechnungen nach Westen getrieben hat, verifizieren die Geodäten am Stadtrand der Metropole ihre Arbeit. Hunderte Male lässt William Lambton dazu eine schwere Kette aus besonders hartem Stahl auslegen. Sie besteht aus vierzig Gliedern, die je 76,3 Zentimeter messen und durch fein gearbeitete Messinggelenke untereinander verbunden sind. Immer wieder müssen die Mitarbeiter die hölzernen, mit justierbaren Gestellen versehenen Kisten an einem neuen Ort aufstellen, um die Messung über zwölf Kilometer fortzusetzen.
    Dabei erweisen sich hier in Südindien die hohen Temperaturen als Problem, denn in der Hitze dehnt sich das Metall aus. Lambton hat lange herumgetüftelt, um eine Formel zu finden, mit der er Temperaturschwankungen einfach wegrechnen kann. Nach dem Vergleich der Ergebnisse der ersten Kette mit einer zweiten, die in einem kühlen Gewölbe lag, ist er zu dem Schluss gekommen, dass ein Temperaturunterschied von 0,5 Grad bei der dreißig

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