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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Meter langen Kette einem Unterschied von 0,188 Zentimeter entspricht. Also lässt er jetzt in den Kästen Thermometer installieren, deren Werte bei jeder Messung notiert werden.
    Die Methode funktioniert und Lambton kann in Bangalore einen großen Erfolg verbuchen. Inklusive der kalkulierten Abweichung kommen die Wissenschaftler nach neunundvierzig Tagen zu dem Ergebnis, dass die vermessene Länge der Grundlinie nur um 9,4 Zentimeter von den durch Triangulation berechneten 11,6 Kilometern abweicht. Lambton präsentiert sich seinen Auftraggebern mit diesem Ergebnis als unvergleichlicher mathematischer Genius.
     
    Mein Fahrer hält vor einem unscheinbaren Holztor. Zwei Uniformierte dirigieren mich unter eine Kamera. Mein Konterfei wird abgelichtet, meine Daten in den obligatorischen dicken Ordner geschrieben, bevor ich endlich einen Passierschein bekomme. Ich grinse freundlich in die Linse, ich werfe einen letzten Blick auf mein vom Bügeleisen leicht verbranntes Hemd. Und auf die Badelatschen, die ich anstelle der schweren, aber deutlich unbequemeren Trekkingstiefeln trage. Ich fühle mich wie ein Attac-Aktivist, der einen Bankerkongress sprengen will.
    Das Gelände des Schweizer Traditionsunternehmens habe ich mir moderner vorgestellt. Anstelle eines einschüchternden Glaspalastes verstecken sich in einer schattigen Gartenlandschaft mehrere Häuser in Plattenbauweise. Die Flure wirken stumpf und ein bisschen düster. Aus acht Fahrstühlen kann ich wählen, um in das oberste Stockwerk zu gelangen. Hier entwickelt die Forschungsabteilung Lösungen für Automobile und Sicherheitssysteme. Die Atmosphäre erinnert mich an das präglobale, bürokratische Indien der 1980er-Jahre mit seinen erdrückend muffigen Regierungsgebäuden, in denen die Gänge so lang waren wie die Titel an den Türschildern. Und wie die Wartezeiten bei der Verlängerung eines Visums.
    Aber bei Katy geht alles ganz schnell. Sie ist Personalchefin, Ende vierzig, das krause Haar hat sie zu einem Mittelscheitel
gekämmt. Auf die Stirn ist ein Bindi gemalt, der rote Punkt, der einst signalisierte, dass eine Frau verheiratet ist; heute ist er zu einem modischen Accessoire mutiert. In ihrer spitzen Nase steckt ein unscheinbarer Ring, darauf sitzt eine randlose Brille.
    »Wollen wir uns duzen?«, fragt sie. »Wir duzen uns hier alle.« Aber es sind gar nicht viele da. Katy führt mich durch ein Großraumbüro, der Goldrand ihres grünen Saris wirbelt eine Staubmaus auf. Der graue Linoleumboden ist frisch gebohnert und riecht auch so. Die niedrige Decke wirkt so beengend wie die schmalen, lilafarbenen Arbeitsboxen. Nur vereinzelt kann ich Mitarbeiter erspähen. Über eine der Stellwände hinweg unterhalten sich zwei junge Männer mit den stadttypischen, gepflegten halblangen Haaren.
    »Wir haben Gleitzeit«, sagt Katy. Als würde das wirklich erklären, warum am fortgeschrittenen Vormittag nur ein Viertel des Büros besetzt ist. Während ich mich frage, ob der indische IT-Boom schon lange vorbei ist, schenkt sie mir in der Küche aus einem Metallbehälter Kaffee in eine angeschlagene, hellbraune Tasse. Sich selbst gießt sie Tee ein. Wir setzen uns in ein kleines Konferenzzimmer. Die altertümliche Klimaanlage, eigentlich nichts als ein Ventilator hinter einer feuchten Kunstfasermatte, ist ausgeschaltet. Dafür summt und hupt der Verkehr von Electronics City durch die Fenster, dass die doppelte Verglasung in den Alurahmen scheppert.
    »Vor vierzig Jahren waren wir eines der ersten europäischen Unternehmen in Bangalore«, erzählt sie. »Damals war IT ein Geschäft mit Glamour. Aber heute ist der Lack ab. Wir sind eine von vielen Industrien. Was die globalen Konzerne an uns schätzen, sind unser Wissen und unsere Disziplin. Was sie nicht wissen, ist, dass wir Inder einfach härter arbeiten als Europäer. Denn es gibt zu viele von uns. Der Konkurrenzdruck
ist enorm. Es gibt Tausende, die darauf warten, meinen Job zu machen. Mit mindestens derselben Qualifikation. Und es gibt andere, billigere Länder als Indien. Der IT-Boom ist lange vorbei, die Konzerne könnten schon morgen abziehen.«
    Katy beschreibt ihren Alltag. Acht Stunden ist sie täglich im Büro, danach fährt sie nach Hause, isst etwas und führt Telefonkonferenzen. Sie wohnt in einem 250-Quadratmeter-Appartement im feinen Stadtteil Marathahalli. Sie hat ein Auto mit Fahrer und eine Tagesmutter für die beiden Kinder. Ihr Mann arbeitet auch in der IT-Branche. »Meine Töchter sehe ich beim

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