Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
eigentliche Stadt, die den Goldminen den Namen gab, liegt 30 Kilometer entfernt auf meiner Route nach Norden. Parallel zum Highway Nummer 7 will ich auf Landstraßen der Metropole Hyderabad entgegenlaufen. Hinein in den Bundesstaat Andhra Pradesh. In das Herz des indischen Subkontinents. Nur wenige Dörfer und kleine Städte sind auf meinen Karten in dieser Region zu erkennen. Einzelne Bergketten und spärliche Flüsse, die in ihrem Verlauf versiegen. Dünn besiedeltes, trockenes Land.
Auf dem Weg zwischen den Goldfeldern und der Stadt säumen Ziegelfabriken und Granitschneidereien meinen Weg. Eine »Modern Rice Mill«, so die Aufschrift auf dem blauen Blechschild, ragt aus dem struppigen Land, ein niedriges unscheinbares Gebäude, von einer zerbröselnden Mauer umgeben. In der Ferne thront der Umriss einer letzten dürren Stahlkonstruktion, ein aufgegebener Förderturm. Vor einem verglasten Verkaufsgebäude glänzen Reihen frisch gewaschener, knallroter Mahindra-Traktoren; neue Modelle mit absurd windschnittiger Karosserie.
Mittags geht die postindustrielle Brache in Agrarland über. Die enge, stark befahrene und frisch geteerte Landstraße schlängelt sich durch Eukalyptuspflanzungen und Tomatenfelder. Die Kühe tragen ihre Hörner noch bunt lackiert vom Erntedank: feine, knallig glänzende Querstreifen in Rosa, Lila
und Silber, Gelb und Blau. Auf die Stirn ist den ahnungslosen Wiederkäuern ein dunkelroter Punkt gemalt, um ihre faltigen, grauen Hälse baumeln abgewetzte Blumenketten. Zwei Männer surfen auf einem Pflug hinter einem weißen Ochsen über ein von blassen Strunken bestandenes, trockenes Feld. Große Greifvögel kreisen über Bewässerungsgräben und jagen sich gegenseitig die Beute ab.
Am Westrand von Kolar finde ich ein Hotel. Es hat Fenster, deren Scheiben so durchlöchert und deren Holzrahmen so verzogen sind, dass mich bereits am Nachmittag Schwärme von Insekten umkreisen. Aus der Küche direkt unter mir höre ich Rufen und das Geklapper von Geschirr. Aber es klingt wie Musik. Der Lärm macht mir nichts mehr aus. Ich bin glücklich, wieder auf dem Land zu sein. Ich erwarte keine Ordnung mehr, keine Ruhe, keine Planbarkeit. Ich habe mich endlich mit der indischen Wirklichkeit abgefunden.
In einem Geschäft an der Hauptstraße erstehe ich am frühen Abend Moskitoringe, Streichhölzer aus Wachspapier und die üblichen Kekse für das Frühstück am nächsten Morgen. Am Tresen stehend, beobachte ich einen Brahmanen, der mit flackernden Lampen in dem niedrigen Hindutempel nebenan herumhuscht. Plötzlich steht der Priester, ein junger Mann in Jeans und Polohemd, im Laden. In der Hand hält er einen rosafarbenen Plastikbeutel, der mit einer gelben flockigen Masse gefüllt ist: Prasad, ein Rohrzucker-Reis-Gemisch, das er seinem Gott Hanuman als Opfer darbringen will. Ich kann die Unterstützung des kraftstrotzenden Affenheroen auf meiner bevorstehenden Wanderung durch die Wüste gebrauchen. Ich falte die Hände und verbeuge mich. Der Geistliche drückt mir mit dem rechten Daumen ein heiliges Zeichen, einen Tika, auf die Stirn.
Als ich nach einer kurzen Nacht um vier Uhr früh, noch im Kerzenlicht, in den Spiegel schaue, ist der rote Punkt nur leicht verschmiert. Auf der Hauptstraße vor dem Hotel tauche ich in ein Meer aus Nebelschwaden. Ich husche durch ein stilles Land. Kaum ein Licht blinkt zwischen den schemenhaften Knicks und Feldern. Es ist so still auf der Allee, dass ich den Tau von den Bäumen tropfen höre. Und es ist überraschend kühl an der Schwelle zwischen dem Plateau von Süd-Karnataka, auf dem Bangalore und Kolar liegen, und den vegetationsarmen Ebenen, die sich vor mir ausbreiten. Als der Tag endlich aus dem Nebel aufsteigt, setze ich mich zum ersten Mal auf dieser Reise zum Aufwärmen in die Sonne, auf einen eiskalten Findling.
Je weiter ich an diesem Vormittag wandere, desto spärlicher wird die Vegetation. Die Eukalyptushaine dünnen aus, bevor sie von dichtem Tamarindengestrüpp abgelöst werden. Vor Bananenplantagen und über Hühnerfarmen wachen Vogelscheuchen mit Tontopfköpfen. Unter dem Dach eines Tempels wirbt ein deutscher Chemiekonzern mit bekanntem Schriftzug für die globale Dimension der Grünen Revolution. Die öffentlichen Telefone sind nicht mehr wie im Süden mit Regenschirmen versehen, sondern mit kleinen Wellblechbögen, von denen nackte Glühbirnen baumeln.
Am späten Mittag taucht die Stadt Chintamani aus der Ebene auf. Zwei unbefestigte, stark
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