Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Lambton einen halben Liter Madeira, bevor er zu Bett geht. Am nächsten Morgen fühlt er sich so schlecht, dass sein Arzt befürchtet, er werde sterben. Die Expedition ist gezwungen, in Hinganghat Station zu machen. Am 19. Januar wird das Camp aufgebaut.
Doch den nächsten Morgen erlebt Lambton nicht mehr. Ein Diener findet ihn tot im Bett. »So still und ruhig hatte er seinen letzten Atem ausgehaucht«, notiert George Everest später, »dass niemand seinen Tod bemerkte.« Er ist so bescheiden gestorben, wie er gelebt hat.
Am Nachmittag mache ich mich auf die Suche nach dem Grab des genialen Geodäten. Aber ich finde niemanden, der auch nur eine Ahnung davon hat, wer Lambton überhaupt war. Nicht der Boy meines Hotels, der dreihundert Rupien als Sicherheit für das Zimmer verlangt, aber fünfhundert Rupien nicht wechseln kann. Nicht der Mann im Laden, der neben mir Henna für die Hände seiner Frau kauft und sie vor dem Bezahlen noch
einmal besorgt anruft, um nachzufragen, ob es die richtige Marke sei. Auch der Koch, der in einem Straßenrestaurant hinter Strohwänden ein Special Menue zusammenstellt, das sich als nichts weiter entpuppt als Linsen mit Fladenbrot, kann mit dem Namen nichts anfangen. »William London?«, fragt er zurück. Verzweifelt schlinge ich mein Essen hinunter und beobachte dabei, wie ein Hund mit einem Sprung einen Samosa aus einer an der Straße aufgestellten Auslage klaut. Die Auslage fällt um, die Ware kippt in den Staub. Der Mann verscheucht den Hund, pustet die Samosas ab und ordnet die Teigwaren neu.
Ich frage mich zur Polizeiwache durch. Ein Beamter mit randloser Brille und drei weißen Sternen auf der Schulter bittet mich an einen Schreibtisch. Ich erzähle ihm, was ich suche. »Hm«, macht er, und es klingt nicht sehr begeistert. »Wir müssen erst mal den christlichen Friedhof finden.« Er durchwühlt mit melancholischem Gesichtsausdruck einen Ordner. Er ruft bei der Kirche an, aber es nimmt niemand ab. »Warten Sie bitte«, sagt er und ordert mit einer Sturmklingel, die an seinem Schreibtisch befestigt ist, einen Bediensteten herbei, damit er uns Tee holt. »Sie brauchen einen Fahrer.« Ich nehme auf einem Schalenstuhl Platz. Ich schweige, weil ich das Gefühl habe, er will nicht mehr sprechen. Im Nebenraum knattert ein Funkgerät.
Eine Polizistin in olivgrünem Sari führt eine Frau herein, die aussieht wie eine Indianerin. Sie zetert und schreit, jemand habe sie geschlagen. Die Frau wird in den Nebenraum gebracht. Der Tee kommt, der Polizist bietet mir Anis und andere Gewürze aus einer mit Intarsien versehenen Schatulle an. »Haben Sie auf der Straße nach Hinganghat irgendwelche Schwierigkeiten gehabt?«, fragt er.
Nach einer Stunde erscheint ein Mann in schwarzer Lederjacke. Er fährt mich mit dem Motorrad quer durch die Stadt. Vor
einem Schreibwarengeschäft parkt er die Maschine. »Früher war mein Vorname Thomas«, sagt der Mann hinter der Ladentheke. Heute heißt er Vinod Samuel, ist Mitte zwanzig und trägt ein kariertes Hemd. Christ ist er dennoch geblieben.
Vinod holt sein Fahrrad. Wir überqueren ein Kricketfeld, auf dem ein paar Jungen mit Knüppeln statt mit Schlägern trainieren. Wir passieren eine niedrige Moschee und sausen in ein Lehmhüttenviertel hinein. In einer engen Gasse neben einem Kanal springt eine Frau zur Seite, die mit dem Handy telefoniert, während sie mit der rechten Hand in einer bronzefarbenen Schüssel Reis wäscht. Ein Mädchen, das offenbar gerade eine Hüttenwand geweißelt hat, balanciert einen Plastikhocker, Pinsel und Farbeimer von dem schmalen Weg herunter.
Am anderen Ende der Siedlung bremst Vinod. Wir stehen unter einem ausladenden Baum vor einem zertrümmerten Grabstein. Daneben erhebt sich eine viereckige Einfriedung aus Granitblöcken. »Die Leute bauen ihre Hütten immer weiter auf unseren Friedhof«, klagt er, als er die Tür öffnet. Das Schloss in der Mauer ist aufgebrochen. Eine kleine Gruppe Jugendlicher aus der Siedlung folgt uns.
In der Mitte der Einfriedung steht eine Stele mit einer verblichenen Inschrift. »Das hier ist der Ort, an dem er begraben liegt«, sagt Vinod. Er betet die Fakten herunter: »William Lambton, Leiter des Survey of India, gestorben im Dienst an Tuberkulose, am 19. Januar 1823, im Alter von neunundsechzig Jahren. Er hatte keine Chance, hier gab es keinen Doktor, keine medizinische Versorgung, dies hier ist tiefste Provinz.« Das alles, sagt Vinod, hätten er und seine Familie aber erst aus
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