Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
das Gefühl, dass keiner meine Ausführungen wirklich versteht. Ein Leben ohne Glauben ist für meine Zuhörer unvorstellbar.
Ich frage den Jungen, warum er hier ist. »Um das Kastensystem zu zerstören«, sagt er. Er kommt aus dem Bundesstaat
Rajasthan. »Ich lerne hier Sozialarbeit. Dann gehe ich in die Dörfer und helfe den Menschen dort.«
»Ich bin in Nagaloka, um gelassener zu werden«, sagt ein anderer. »In meinem Dorf in Orissa habe ich geprügelt und gespielt. Jetzt bin ich ein halbes Jahr hier. Die Meditation hat mir sehr geholfen.«
Die Nacht ist ruhig, nur einmal schlurft jemand über den Gang, öffnet eine Kette, schließt eine Tür. Ich höre die Grillen zirpen. Und nur gelegentlich einen Lkw, das Hupen einer Mopedrikscha jenseits des Geländes. Ein kleines bisschen juckt mein Fuß.
Ich bleibe einen Tag in Nagaloka. Am Morgen bewässere ich mit den Schülern die frisch gepflanzten Feigenbäume und die Bougainvilleas und jäte das Unkraut zwischen den niedrigen Hecken, die zu Kreisen angelegt sind, im Garten des Direktors, von dem sie sagen, er sei auf einem Social Retreat . Was immer das ist. Sein Haus liegt in einem kleinen Park, davor wachsen Rosen unter Eukalyptusbäumen, durch die ein Palmenhörnchen springt. Ein Mobilfunkmast ragt in den Himmel wie ein Markierungspunkt des Great Trigonometric Survey. Wie eine Fahne, die der neue Leiter des Unternehmens, George Everest, dort hat aufstellen lassen.
Everest tritt im März 1923 offiziell die Nachfolge William Lambtons als oberster Leiter des Survey an. Der Zweiunddreißigjährige mit der schmächtigen Statur und dem schmalen Mund, der auf Fotos aus der zweiten Hälfte seines Lebens oft mit imposanter Löwenmähne abgebildet ist, macht sich auch in seiner neuen Funktion sofort unbeliebt. Nach dem Tod Lambtons in Hinganghat hält er den Mitarbeitern umgehend einen mahnenden Vortrag: Er ist erzürnt, weil sie die Hinterlassenschaften
Lambtons umgehend verkauft haben, einschließlich zahlreicher Gegenstände, die eigentlich dem Survey gehörten. Dabei dürfte es ihm weniger um die Ehre des Verstorbenen gehen, als eben um diese Aufzeichnungen und Instrumente, die verloren sind. Die Männer, von denen viele seinem Vorgänger zwei Jahrzehnte lang treu gedient haben, laufen Everest nun davon. Als auch Lambtons Assistent Joshua de Penning, der besonders von den indischen Vermessungsgehilfen geschätzt wird, seinen Rücktritt anbietet, droht das Unternehmen ins Stocken zu geraten. Wutentbrannt notiert Everest über de Penning, einen der verdientesten Mitarbeiter des Survey: »Diese Person besaß, abgesehen von den Dezimalzahlen, dem Umgang mit den Taylorschen Logarithmen und der ersten und zweiten Wurzel, nicht einen Funken mathematischer Kenntnisse.« Und verwendet dann doch große Mühe darauf, den Assistenten zu überreden, noch ein Jahr zu bleiben. Um die drohende Massenflucht abzuwenden.
Everest lässt seine Mannschaft in Nagpur den Monsun abwarten, neun Monate verbringen die Männer dort. Er selbst wird unterdessen erneut von der Malaria heimgesucht, ist fast ein halbes Jahr lang so schwach, dass er auf einer Sänfte getragen werden muss, und beginnt dennoch nach Ende der Regenzeit wieder mit den Vermessungen. »Es war eine verzweifelte Lösung, denn da meine Glieder in höchstem Maße gelähmt waren, bestand die unangenehme Notwendigkeit, mich auf einen Platz am Zenitsektor zu setzen und während der gesamten Arbeit mit dem Instrument von zwei Männern hochheben zu lassen. Damit ich am großen Theodolit die Schraube des Vertikalkreises erreichen konnte, mussten zwei meiner Gefolgsleute mir häufig den linken Arm stützen. Und manchmal war ich so schwach und erschöpft, dass ich, ohne gestützt zu werden, nicht an dem Instrument stehen konnte.«
Die Vermessungen sollen nun von Achalpur, etwa 100 Kilometer westlich von Nagpur, wo eine neue Grundlinie ermittelt worden war, nach Sironj, 300 Kilometer weiter im Norden, durch den Subkontinent führen. Zwischen dem Fluss Godavari und dem zentralen Madhya Pradesh, dem Bundesstaat, der sich auf meinem Weg an Maharashtra anschließt, liegt die Strecke der Triangulation etwas westlich jener Route, auf der ich unterwegs bin. Genauer gesagt: zwischen dem 77. und dem 78. Längengrad.
Mittags besuche ich Dhiksabhumi, jenen Ort, an dem Ambedkar einige Jahre nach Indiens Unabhängigkeit zum Buddhismus konvertierte, gefolgt von Millionen von Anhängern. Eine schlichte, beigefarbene Kuppel erhebt sich
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