Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
der Zeitung erfahren. »Das ist ein paar Jahre her. Kurz danach haben die Briten dem Survey of India Geld gegeben, um die Mauer zu bauen. Dann kam ein Professor aus Dehra Dun
und fragte, wo unser Friedhof ist und was wir über das Grab von Lambton wissen. Die Mitarbeiter des Survey haben eine Marmorplatte mit einer Inschrift auf das Grab gelegt. Aber die ist auch schon geklaut.«
Die umstehenden Jungen aus der Hüttensiedlung grinsen frech.
»Ist euch eigentlich völlig egal, wer hier liegt?«, frage ich sie.
»Klar!«, ruft einer. »Was gehen uns die alten Britishers an?«
Buddhas Krieger
Bis nach Nagpur laufe ich weiter auf dem National Highway 7. Hinter der Stadt biegt er nach Nordosten ab, in das zentralindische Hochland führen nur Landstraßen. Es ist kurz vor dem Jahreswechsel, und es sind die letzten beiden Tage auf Indiens längster Autobahn, die ich das erste Mal einen Winter zuvor auf dem Südzipfel des Landes betreten habe.
Das System der Umleitungen hat sich in mein Unterbewusstsein gegraben. Blind erfühle ich im morgendlichen Dunkel die lose Erde an jenen Stellen, wo ich die Straßenseite wechseln muss, um auf den neu gebauten, aber noch unbefestigten Streifen zu gelangen; meist ein Damm über der alten Fahrbahn. Immer wieder weiche ich in der Finsternis Menschen aus, die auf dem Sandstreifen Yogaübungen machen, Liegestütze mit durchgedrückter Wirbelsäule, Kopfstand, Atemtraining. Auf manchen Abschnitten sind reihenweise Matten ausgebreitet, anderswo übt ein Mensch allein. Aus den Häusern jenseits der Autobahn dringt Husten und Röcheln. Das Reinigen der Atemwege ist ein lautstarkes Ritual, das ich immer nur aus Männerkehlen höre. Ich frage mich, ob es Frauen gibt, die sich daran gewöhnen.
Am ersten Tag meiner Wanderung nach Nagpur unterhalte ich mich in einem Teehaus mit zwei Bankern über die internationale Finanzkrise. Indiens Wirtschaft könne davon gar nicht betroffen werden, sagen sie. »Der Bankensektor ist zu kontrolliert. Riskante Finanzgeschäfte waren hier nie möglich.
Die Realwirtschaft ist nicht in Gefahr. Das ist alles Hysterie.« Tatsächlich hat die Finanzkrise in Indien nur wenige Branchen erschüttert, vor allem die vom US-amerikanischen Markt abhängigen Textil- und Technologieunternehmen.
Kurz vor dem kleinen Ort Borkhedi hält in der Abenddämmerung ein junger Mann auf einem Motorrad neben mir und bietet mir eine Unterkunft an. Ich komme in einem ungenutzten, völlig leeren Zimmer im ersten Stockwerk über der Hauptstraße unter. Die Fenster haben keine Scheiben, die Tür ist aus lackiertem Blech. Der Mann fragt mich, ob ich mit ihm trinken möchte. Aber ich schiebe Erschöpfung vor und lasse mich vom Durchgangsverkehr in den frühen Schlaf dröhnen.
Am nächsten Tag mache ich mir Sorgen um meinen Fuß. Das Wandern fällt mir in diesem Jahr viel leichter als im Winter zuvor. Vielleicht auch, weil ich die Zeit zum Aufstehen um eine Stunde nach hinten verschoben habe, auf fünf Uhr früh. Außerdem ist es hier im Norden kühler und trockener als im Süden, perfektes Wanderwetter eigentlich. Und doch wird mein Neustart von Beschwerden begleitet.
Ich raste in der Nähe eines Bauernhofs, der von riesigen Kokospalmen gesäumt ist, und schnüre meinen rechten Schuh auf. Ich untersuche meine Ferse. Seit dem ersten Wandertag habe ich dort leichte Schmerzen. Morgens scheint es, als würde die Achillessehne bei der ersten Belastung regelrecht quietschen, ein gespenstisches, fast unhörbares Geräusch. Im Laufe des Tages lassen die Beschwerden nach, aber immer wenn ich eine Pause mache, tut meine Hacke wieder weh. Die Symptome werden nicht schlimmer, aber sie verschwinden auch nicht. Ich frage mich, ob es an den neuen Stiefeln liegt, die ich seit Adilabad trage.
Ich liege auf meiner Regenjacke neben einem Teich und beobachte eine vorbeiziehende Hochzeitsgesellschaft. Ein
Jüngling mit einer überdimensionalen Spraydose sprüht Konfetti über die Prozession. Die Männer tanzen ekstatisch. Eine Band in blauen Hemden und weißen Hosen marschiert, einer ganz vorne schlägt eine Basstrommel. Ich döse ein, plötzlich steht eine junge Frau vor mir, breitbeinig, bis zum Kopf in ein einziges grünes Tuch gehüllt. Sie schaut auf meinen Fuß, nur der rechte ist nackt. Vielleicht sieht sie nur die Blasen auf den Zehen. »Du solltest ohne Schuhe gehen«, sagt sie. Doch ich befolge ihren Rat nicht aus Furcht vor noch mehr Blasen.
Die Zwei-Millionen-Stadt Nagpur wirkt sauber
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