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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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und grün. Die Mittelstreifen der Hauptstraßen sind mit gepflegten Beeten ausgestattet, bunte Geranien inmitten von geschorenem Rasen. Plant Trees for Peace steht auf einem Schild. Durch das zentrale Geschäftsviertel Sitalbudi, das völlig ohne Glasfassaden und Hochhäuser auskommt, strömen Menschenmassen, Mopeds, Fahrräder. Aber nur sehr wenige Autos. Die Gesichter der Bewohner erinnern an die von Aborigines.
    Ich habe mir vorgenommen eines der geistig-moralischen Zentren der Stadt zu besuchen: Nagaloka, ein buddhistisches Institut in der Tradition Bimrao Ramji Ambedkars, Gandhis radikalem Gegenspieler. Aber ich finde es erst nach langer Suche. Das Zentrum liegt hinter einem Industriegebiet im Nordosten der Stadt; ein unscheinbarer Eingang, ein Sandweg unter einem Blechschild gegenüber einem Toyota-Autohaus.
    Es ist bereits dunkel, als ich mich bei einem kauzigen kurzhaarigen Mönch in rotem Fleecepullover und schwarzer Adidas-Hose vorstelle. Er führt mich in das Gästezimmer D-3, einen schlichten Raum, dem das Tunneldach aus unverputztem Beton die Atmosphäre eines Zugabteils verpasst. Im Zimmer stehen zwei Betten, ein Schreibtisch, ein Einbauschrank,
auf dem vergitterten Balkon ein Plastikstuhl und ein Wäscheständer.
    Der Mönch zeigt mir die gemeinschaftliche Kochnische am Ende des Ganges, den Propankocher und den Aquaguard-Wasserfilter, den Essbereich mit eleganten Korbstühlen und Blick über das Gelände. Den Schlüssel zu meinem Zimmer legt er lächelnd unter die Fußmatte des Gebäudes. »Hier wird sowieso nichts geklaut.«
    Zwanzig Minuten später sitze ich neben ihm auf einem mit Stoffgurten bespannten und mit zwei Lagen grüner Sofakissen belegten Bettgestell im zentralen Tempel der Anlage und frage mich, was nun kommt. Kampfgesänge oder Meditation? Politische Indoktrination oder spirituelle Unterweisungen? Was habe ich zu erwarten in einem Heiligtum, das jenem Mann geweiht ist, der mit Gandhi für die Rechte der Kastenlosen kämpfte, bis er an der Hinduismustreue des Mahatma verzweifelte, am Hinduismus an sich, und exemplarisch für Millionen Kastenlose zum Buddhismus konvertierte? Der Bücher geschrieben hat wie The Buddha or Karl Marx ?
    Vor mir stimmt ein Dutzend Männer im Lotussitz in der alten indischen Sprache Pali ein monoton klingendes Lied für den »Bhagvan« an, den Erleuchteten, der »die geistige Ablenkung zerstört«. Zu meinen Füßen liegen eine Trommel aus Gusseisen, die aussieht wie ein Kochtopf, und ein Schlegel. Immer mehr Männer strömen herein. Im Zentrum des Raumes thront eine drei Meter hohe bronzene Buddhastatue mit klassischer Lockenfrisur, davor Blumentöpfe, ein winziger Tisch, eine Kerze, Blütenblätter. Die Halle wirkt spartanisch, die Wände sind unverputzt wie die meiner Unterkunft; die puristische Version einer orientalischen Religion. Ich fühle mich an ein Zenkloster erinnert und gleichzeitig an protestantische Kirchen.
    Die Adepten setzten sich, jetzt haben alle die Augen geschlossen, drei der Schüler hinter schwarzen Kastenbrillen. Unter Wolldecken tragen sie Pullunder und Jeans, einer eine kurze Hose und eine Schirmmütze, ein anderer ein feminin wirkendes Halstuch und weiße Handschuhe. Die Stille ist ebenso entspannt wie diszipliniert. Plötzlich erhebt einer ganz ruhig die Stimme. »Warum ist der Fremde hier?«, fragt er und blickt in meine Richtung.
    »Das wird er gleich erzählen«, sagt der Mann in der Adidas-Hose neben mir.
    Die Meditation dauert eine Viertelstunde, dann richten sich die Schüler der Reihe nach auf, schreiten zum Buddha hinüber und verbeugen sich vor ihm bis zum Boden. » Om Muni Muni Sakyamuni Svaha «, singen sie. » Om Muni, Muni, Om Maha Muni .« Dann verbeugen sie sich vor mir. Und ich frage mich, warum mir das nicht peinlich ist.
    Der Mann neben mir schlägt die Metalltrommel. Das Ritual, die Puja, ist zu Ende. Ich erzähle von meiner Wanderung. Ich höre mich selbst ganz entspannt einen kleinen Vortrag auf Hindi halten, nur hier und da von ein paar englischen Vokabeln durchsetzt. Es fällt mir leicht vor diesen Menschen zu sprechen, ich fühle mich fast unter Gleichgesinnten. Das Publikum nickt und hört aufmerksam zu. Der Junge mit den Handschuhen will wissen, warum die Menschen in Europa ihren Glauben verloren haben. Ich versuche zu erklären, wie sich die Kälte in die westlichen Religionen geschlichen hat, wie der Katholizismus den Protestantismus hervorgebracht hat, wie sich der Atheismus entwickelte. Aber ich habe

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