Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Lila Prunkwinden wuchern in tiefen Straßengräben. Aber die Beschwerden in meinem Fuß werden immer deutlicher. Ich bekämpfe sie mit Aspirin und laufe trotzdem bis zu 35 Kilometer am Tag.
In Chindwara habe ich ein Treffen mit Deepak Acharya vereinbart, einem Doktor, der auf Naturmedizin spezialisiert ist. Er will mich nach Patalkot, ein verborgenes, von der Zivilisation fast unberührtes Tal fahren. »Ein Ort, den man nicht findet, wenn man nicht genau weiß, wo er ist.« Ich übernachte bei seiner Familie. Er habe Patalkot vor neunzehn Jahren entdeckt, sagt Deepak. »Damals war das Tal noch fast unbekannt. Aber bald kamen die ersten Fremden. Sie schlugen Holz, sie sammelten bekannte Heilpflanzen, die dort massenhaft wuchsen. Keiner hielt sie auf. Jetzt fahre ich alle paar Monate dorthin. Die Bewohner liefern mir Pflanzen für das Unternehmen, das ich gegründet habe. In meinem Labor in Ahmedabad machen wir daraus Mittel gegen Asthma, Antiseptika, Potenzmittel und Mückenschutzcreme. Wir übersetzen die traditionellen Kenntnisse in Fertigprodukte. Das ist meine Mission.« Er
schaut mich mit einem ernsten, fast traurigen Gesicht an, so durchdringend, als wolle er prüfen, ob ich ihn wirklich verstanden habe.
Deepaks Bruder trägt ein schneeweißes Hemd mit der bunten Aufschrift »Google«, die vierzehnjährige Nichte Gautami spricht Englisch wie ein Wasserfall, der pummelige Neffe Gautam tritt dem akademischen Onkel scherzhaft in den Hintern. Bis auf die zierliche Schwester sind alle so wohlgenährt wie der Doktor. » You should become like us «, sagt seine Mutter und füllt auf, was die zentralindische Küche an Fladenbrot mit Butter, Reis und Joghurt, Gemüse und Hülsenfrüchten hergibt, bevor wir zu selbst gebackenem Konfekt übergehen. Wir schießen Gruppenfotos, Doppelporträts, Einzelfotos. Ich unterschreibe alles: Poesiealben, lose Blätter Papier. » Best wishes to Gautami.« »Best wishes to Gautam.« »Best wishes to my mother. «
»Wieso denn meine Mutter?«, frage ich.
»Doch, doch«, sagt sie. »Ich bin auch deine Mutter.«
Am nächsten Mittag melden wir unsere Expedition der Form halber bei einem muffeligen Staatsbeamten in der lokalen Polizeistation an. Dann springen wir in den Jeep. Wir fahren durch offenes, bäuerliches Hügelland. Alle Kultur wirkt hier wie eine Miniatur: die schmächtigen, dunkelhäutigen Menschen, die wenigen Dörfer mit ihren niedrigen Häusern, die schlaglochdurchsetzte Sandpiste, die sich wie ein schmales Band durch die endlosen Berge und Ebenen windet.
Nach einer Stunde erreichen wir einen Ort namens Newton, benannt nach einem Briten, der hier als Erster Kohle fand, und statten uns an den Kiosken mit Mineralwasser und Samosas aus. Anlässlich des muslimischen Trauerfestes Muharram säumen Fahnen die unbefestigte Hauptstraße, große Wimpel auf Stangen, kleine Flaggen, die dazwischen an Bändern flattern. Deepak gelingt es, trotz des Festtages durch den Hintereingang
eines Ladens eine Flasche Whiskey zu erstehen. »Hast du etwas dagegen, wenn ich rauche?«, fragt er, bevor er noch vier Packungen Zigaretten dazu kauft. Dann steuern wir tief ins Hinterland hinein.
Jenseits von Newton beginnt der Dschungel. Schlanke Salbäume, kleinere Teak- und Palasabäume, halb trockene Flussläufe. Je tiefer wir in den Wald hineinfahren, desto kühler wird es. Deepak lässt die Fahrt ständig unterbrechen. Immer wieder muss der Chauffeur anhalten, damit der Doktor entzückt in den kiplingschen Urwald stürzen kann. »Oh, ich sehe eine medizinisch interessante Pflanze«, ruft er dann. Er läuft durch den Wald, ich sprinte hinterher. Er hält eine Frucht in der Hand, in einem bräunlichen Schaft sitzt ein schwarzer Pflanzenteil. »Schau mal hier«, sagt er. »Das Schwarze verwenden die Heiler in Patalkot, um Öl daraus zu machen. Es wirkt wie eine starke Säure. Es wäre auch das Richtige für deinen Fuß. Wenn man wüsste, wo genau man es aufträgt. Aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Und an der falschen Stelle frisst diese Medizin die Haut weg.«
Gegen drei Uhr nachmittags spuckt uns der Dschungel auf die Hochebene. Der Jeep steuert jetzt über Grasland, das nur hier und da von einzelnen Hirse- und Weizenfeldern durchsetzt ist. Zum ersten Mal auf der ganzen Reise sehe ich dicke Wolken am Himmel, sie ballen sich über der kahlen Landschaft zu einer horizontbreiten, hellweißen Bank zusammen. Alles ist braun und staubig und trüb; Weideland, Trockensavanne. Im
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