Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
bevor er genau hier in das mythische Patalloka hinabgestiegen sei, in die legendäre Unterwelt der alten indischen Religionen. Er erzählt von den mächtigen Königen, die vor dreihundert Jahren das versteckte Tal regierten und von einem langen Tunnel, den sie bohrten, bis hinüber und hinauf nach Pachmarhi, dem höchsten Punkt Zentralindiens, mehr als 50 Kilometer entfernt.
Der junge Mann mit der Zahnlücke bringt das Gespräch auf Frauen. Vor allem auf westliche. »Stimmt es, dass die Mädchen in Europa immer Tops tragen?« Ich frage ihn, wie er auf diese Idee kommt. Er sagt, das habe er im Fernsehen gesehen. In Chindwara, wo er schon drei Mal war, um Mangos zu verkaufen. Ich erzähle ihm, dass die Mädchen im Sommer in den deutschen Freibädern Bikinis tragen. Und lege noch einen übermütigen Exkurs über die mitteleuropäische FKK-Kultur nach. Aber er reagiert erstaunlich cool. »Ich muss Frauen ja nicht nackt sehen, um zu wissen, ob sie hübsch sind oder nicht.« Allerdings gebe es in Patalkot auch nicht so viele, die für ihn in Frage kämen. »Ich habe lange nach einer Braut gesucht, aber keine gefunden. Jetzt ist es zu spät. Ich werde wohl für immer Junggeselle bleiben.«
In der ersten Nacht in Patalkot schlafe ich unruhig. Immer wieder schreit ein Kind ziemlich nah irgendwo im Dorf. Stundenlang wälze ich mich unter meinem Moskitotunnel von
einer Seite auf die andere. Ich träume, dass mir beim Essen ein Zahn verloren geht. Und dass er beim näheren Hinsehen doch nur halb weggebrochen ist. Am nächsten Morgen erkenne ich, wer in der Nacht so laut geschrien hat. Am Rand des Dorfplatzes steht ein einfaches Zelt aus Plastikplanen, vor dem eine vierköpfige Kleinfamilie mit einem schlafenden Baby um ein Feuerchen hockt.
Das Dorf ist viel größer, als es bei der Ankunft schien. Hinter den Gebäuden rund um die Schule verstecken sich zahllose Häuser in der hügeligen Landschaft auf dem Talboden. Sie stehen hinter Buschwerk und unter ausladenden Baumkronen, die Wände aus Lehm, die Strohdächer überwuchert von Gräsern und Ranken, ein halb wildes, halb kultiviertes Nebeneinander von Natur und Zivilisation, als würden Wildnis und Dorf ineinanderwachsen. Die Zäune um die Gärten und Ställe sind aus Bambus gebaut oder aus geflochtenen Matten errichtet, auf winzigen Feldern weht der Senf im Wind.
Es ist zehn Uhr, und Deepak beginnt mit der Arbeit. Er schießt Fotos von wildem Tabak, von Pflanzen, die er Arusa nennt und Dolicus. Wir besuchen einen Bauern, der einen taubengroßen Singvogel in einem massiven Eisenkäfig hält. Deepak spricht mit ihm über eine Bodenranke namens Tylophora indica . Wir rauchen ein fingerlanges Chillum mit dem Landwirt, immer wieder füllt er die kleine Tonpfeife mit frischem, grünem und viel zu starkem Tabak und serviert dazu auf seiner Terrasse süßen Tee.
Der Mann führt uns zu einem kleinen Feld unterhalb eines trockenen Hanges. Zwischen niedrigen Hirsepflanzen wächst eine kleinblättrige Ranke, die am Boden kriecht.
»Die Bhumka, die Heiler dieses Tals, verwenden ihre Wurzel als Mittel gegen bronchiales Asthma. Sie entspannt die
Atemwege«, sagt der Doktor, während er am Boden hockt und mit der Linse seines Fotoapparates das Kraut fokussiert. »Aber sie hat, anders als die chemischen Mittel, kaum Nebeneffekte. Und einen weiteren Nutzen: Sie fördert die Milchproduktion von Kühen. Wir haben erfolgreiche Tests gemacht. Aber wir brauchen mehr Rohmaterial, um auf den Markt gehen zu können. Wenn die Pflanze reif ist, kaufen wir sie von den Bauern. Auch in kleinen Mengen. Wir wollen, dass die Menschen hier weiter traditionell wirtschaften.«
In einem Feld daneben ist der Versuch, eine Wildpflanze zu kultivieren, gescheitert. Chlorophytum indicum , ein Mittel gegen männliche Unfruchtbarkeit, will nicht anwachsen. Deepak ist enttäuscht. »Aus den vielen Setzlingen sind nur drei Pflanzen gesprossen. Vielleicht ist diese Pflanze einfach ungeeignet für die Kultivation?«
Mittags speisen wir bei dem Lehrer. Er wohnt in einem Lehmhaus mit blau bemalten Holztüren und serviert uns Fladenbrot aus Maismehl. Sein Domizil wirkt wie eine Höhle. Die Böden sind gefegt, die Wände asymmetrisch. In den Türrahmen flattern zur Zierde die braunen, gelockten Bänder von Musikkassetten. In einer Nische, auf einem Sockel komplett aus Lehm, ruht ein Fernseher. »Manchmal haben wir ja abends ein, zwei Stunden Strom. Und bald soll auch eine Straße hierherkommen«, sagt der Alte. Er
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