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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Nachmittagslicht treiben Hirten riesige Kuhherden über Sandwege. »Die Einheimischen nennen diese Tageszeit Godhuli Vela«, sagt der Doktor, »Kuhstaubzeit.«
    Nach einer Stunde Fahrt über die Hochebene bremst der Jeep vor einem verfallenen Haus. Es ist eisig kalt. Wir staksen durch hüfthohes Gras um die Ruine herum. Auf der Rückseite
öffnet sich ein gewaltiges Loch in der Landschaft. Ein kilometerbreites, Hunderte Meter tiefes Tal breitet sich vor uns aus, ein riesiges, aus der Ebene geschnittenes Hufeisen. In der Mitte leuchtet ein schmaler Fluss im Abendlicht, blaue Felsen ragen aus Wald und Gestrüpp. Ich kann zwei Dörfer erkennen, Dächer aus Stroh und Ziegeln, aufsteigenden Rauch. Rufen und Lachen dringen aus der Tiefe durch die trockene Luft. Die Frequenz erinnert an Vogelgezwitscher. »Dies ist Patalkot«, sagt Deepak.
    Wir steigen einen schmalen Pfad hinab. Deepak klettert in weiten Jeans und weißen, ausgetretenen Adidas-Turnschuhen voraus. Er bewegt sich erstaunlich schnell für sein Körpergewicht. Der Schein meiner Taschenlampe folgt ihm, flattert über Felsen und Sand, über Gras und durch ausgetrocknete Bachläufe. Oben im Tal fällt der Lichtkegel durch dürre Büsche, die sich an den Abhang klammern. Aber als wir den Boden des Canyons erreichen, leuchte ich durch einen dichten Wald, weiße Stämme und schwarze Äste, die sich in die mondlose Nacht recken.
    Nach einer knappen Stunde Fußmarsch in der Dunkelheit hören wir Hundegebell. Der Wald öffnet sich. Wir stehen auf einer Lichtung.
    Das Dorf Chimtipur scheint in der Dunkelheit nicht viel mehr zu sein als eine Ansammlung von vier strohgedeckten Häusern rund um das zentrale, wellblechgedeckte Gebäude der Hauptschule. Darüber breitet sich der Sternenhimmel aus. Aus der Nacht schälen sich zwei Schatten mit einer Ölfunzel in der Hand: ein älterer kleiner Mann, ein blaues Tuch um den Kopf und eine verwaschene Jeansjacke über den schmalen Schultern, und neben ihm, gebeugt und in Badelatschen gehend, ein junger Mann mit gelbem Anorak, kräftigen Wangenknochen und einer gewaltigen Lücke zwischen den unteren
Schneidezähnen. Deepak und der Alte begrüßen sich herzlich. »Er ist der Lehrer hier«, erklärt der Doktor, als der Mann uns in das Schulgebäude führt und die Schlafquartiere zeigt. Deepak bekommt einen Platz in einem Klassenraum zugewiesen, ich ein Feldbett in einem Gästezimmer neben einem gewaltigen Schreibtisch und einem deckenhohen Stapel aus Metallkisten und Pappkartons, auf dem ein vergilbter Globus einstaubt. Der Alte versucht vergeblich, eine Glühbirne anzubringen; er gibt auf, weil irgendetwas mit den Kabeln nicht stimmt. Es wäre ohnehin die einzige elektrische Lichtquelle in dem Ort, die Stromversorgung scheint ein Glücksspiel zu sein.
    Wir legen unsere Taschen ab, der Lehrer führt uns in ein weiteres Zimmer, auf dessen Boden Bastmatten ausgelegt sind. Drei kräftige Frauen in knallbunten Blusen servieren uns eine einfache Mahlzeit aus dünnem Reis, Linsen und ein wenig spinatartigem Gemüse. Nach und nach strömen weitere Männer in das Zimmer, ein halbes Dutzend kleine, schmächtige Erscheinungen in billigen Synthetikhosen von unmodischem Schnitt, barfuß oder mit Militärturnschuhen aus Leinen an den Füßen. Zwei von ihnen tragen Tücher um den Kopf, aus denen oben die Haare herausragen. Einer ist in eine braune Wolldecke gehüllt.
    Nach der Mahlzeit setzen wir uns auf Steinen und Plastikstühlen um ein Feuer, das jemand auf dem Dorfplatz entfacht hat, und Deepak lässt die Whiskeyflasche kreisen. Ein zunehmender Winterhalbmond ist aus dem Talkessel geklettert. Wir reden über Religion. Der Lehrer will wissen, wie viele Götter wir in Deutschland verehren. Ich fühle mich wie der Spion, der aus der spirituellen Kälte kam, als ich ihm erkläre, dass die Zahl zwischen Eins und Null liegt. Er erzählt uns vom Glauben der Einheimischen. »Wir beten nicht nur zu den Göttern, sondern auch zu den Bäumen«, sagt er. »Wir verehren den Ficus und den
Banyan, wir bringen ihnen Opfer dar, denn sie geben uns Essen und Medizin. Sie sind alles, was wir zum Leben brauchen.« Er erzählt uns die Legende von Patalkot. Das Tal sei der Eingang in die Unterwelt, erklärt er mit einer Stimme, die tief ist und fistelig zugleich, die am Ende jedes Satzes anhebt, um sich irgendwo in der grillenzirpenden Dunkelheit hinter dem knisternden Feuer zu verlieren. Er spricht von einem Prinz namens Meghnath, der dem Gott Shiva opferte,

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