Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Ich glaube, die Begründung ist nur ein Vorwand. Man gibt mir zu verstehen, dass die Götter nicht für alle da sind. Dass es auf die Herkunft ankommt. Dass ich ein Fremder bin. Ich lasse mir meine Enttäuschung nicht anmerken. »Okay«, sage ich. »Das verstehe ich natürlich.«
Eine Ruine der Klassik
Zwei Tage später taucht Gwalior hinter einer Hügelkette auf. Die Stadt mit knapp einer Million Einwohnern markiert den Übergang vom zentralindischen Plateau zur Gangesebene. Die Vororte sind monotone Siedlungen aus blau und gelb gestrichenen Einfamilienhäusern und Wohnblocks. Die Straße ins Zentrum ist nur wenig befahren, aber dennoch überwacht von Verkehrspolizisten in orangefarbenen Warnwesten. Hinter einer staubigen Glasfassade wirbt ein Geschäft mit dem versucht spritzigen Namen »More 4 less« für Alltagskleidung. Der »Cream Bell Icecream Parlor« ist von jungen Menschen in braven Pullundern und Schuluniformen umlagert. Über dem protzigen Kolonialbau des Hauptbahnhofes liegt diesiges Nachmittagslicht. Die angeschlagenen Säulen des aus derselben Ära stammenden Gebäudes der Statebank of India wirken, als könnten sie jeden Moment unter der Last des schweren Dachs zerbröseln. Schon auf den ersten Blick wirkt Gwalior verschlafen und altmodisch.
Die britischen Vermesser müssen im damaligen Fürstentum Gwalior wieder einmal unter der Herrschsucht ihres neuen Chefs leiden. Als der Leiter des Great Trigonomical Survey im Juni 1830 nach seinem fünfjährigen Heimaturlaub halbwegs genesen auf den Subkontinent zurückkehrt, zieht er sich jedoch zunächst in die kühlen Höhen des Himalaya zurück, an denen die subkontinentalen Dreieckspeilungen einmal enden sollen.
1832 kauft Everest von einem britischen Oberst ein Anwesen in Hathipaon am Fuß des Himalaya, ein herrschaftliches Haus samt zweihundertfünfzig Hektar Park. Es liegt oberhalb der Stadt Dehra Dun, wohin nun das Hauptquartier des Survey verlegt wird. Und fast exakt auf dem 78. Längengrad.
In den folgenden Jahren treiben die Geodäten die vorbereitenden Vermessungen von den Stationen in Zentralindien nach Norden voran. Sie markieren geeignete Positionen, von denen aus sie später die eigentlichen Peilungen vornehmen wollen. Sein Anwesen in den Bergen über Dehra Dun ist für Everest jetzt ein Zufluchtsort vor der Hitze und dem Staub des Flachlands. Zwischen 1834 und 1835 berechnet er in der Nähe von Dehra Dun eine letzte Grundlinie. Die eigentliche Triangulation wird schließlich diese Grundlinie mit den Stationen in Zentralindien verbinden.
Doch dort kommen sie oft nur schleppend voran. 1835 suchen die Wissenschaftler auf Hügeln und Bergen in der Gegend um Gwalior vergeblich jene Markierungssteine, mit denen sie Jahre zuvor die für die Peilungen geeigneten Stellen versehen haben. Viele sind verschwunden. Es scheint, als würden die Einheimischen das koloniale Großunternehmen sabotieren.
Everest flucht auf das »abergläubische Denken der Eingeborenen«, die die Markierungen vermutlich entfernt haben, weil ihnen das Treiben der Briten nicht geheuer ist: »Die Priester förderten den Glauben der Bauern, dass Leute, die ihre Arbeit mithilfe von Feuer mitten in der Nacht an hohen Orten verrichten mussten, (…) mit übernatürlichen Wesen Umgang pflegten, die der Gottheit missfallen könnten«, notiert er. Wie William Lambton Jahrzehnte zuvor tief im Süden, gerät sein Nachfolger jetzt im Norden mit den misstrauischen Kleinfürsten in Streit.
Besonders mit dem Herrscher von Gwalior. Als der britische Regent an dessen Hof in einem Brief auf Persisch, der damaligen Amtssprache, für das wissenschaftliche Projekt im Auftrag der Krone wirbt, unterläuft ihm der Fehler, den Leiter einen »gewissen Major Everest« zu nennen. Dieser springt sofort auf die vermeintliche Degradierung an, die eigentlich nur ein banaler Übersetzungsfehler ist. Er beschwert sich bei der Regierung in Kalkutta und beim Fürsten von Gwalior. Er protestiert auch, weil entgegen der Vereinbarung keine Militäreskorte an der Grenze des Staates auf ihn wartet. Und muss dafür in den entstehenden Wirren seinen eigenen, tausend Mann starken Trupp vierzehn Tage lang ausharren lassen, bevor er das Territorium betreten darf.
Das moderne Gwalior wirkt auf mich verschlafen und glanzlos. Aber bei den Einheimischen ist die Stadt berühmt. Sie ist das Zentrum der Hindustanimusik, der nordindischen Klassik. Sie hat ganze Dynastien von Sängern, Sitar- und Tablaspielern
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