Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
breiten, ausgetretenen Stufen hinauf. Wir passieren das erste Stockwerk »Es war nur für die Königin da«, sagt mein Führer. »Zum Schminken und Sitzen.« Wir klettern weiter. Die meisten Seitengänge, die sich vom Treppenhaus in das Innere erstrecken, sind vergittert. Kein Mensch ist zu sehen oder zu hören. Wie schnell ich hier verschwinden könnte, denke ich. Niemand würde es bemerken.
»Der Palast ist hundertfünf Meter hoch, er hat zweihundert Stufen und vierhundertfünf Räume«, doziert mein Führer schwer atmend. »Er wurde 1620 von dem König Bir Singh Deo gebaut.« Blutig und voller Intrigen sei seine Geschichte. Der Mann erzählt mir, wie Bir Singh dem Wesir von Schah Akbar den Kopf abgeschlagen hat. Und wie Jahangir, Akbars Sohn, sich mit Bir Singh verbündete, der seinen Verbündeten später, als er selbst Schah wurde, als Dank zum Herrscher von Datia ernannte. Und diesen Palast baute. »Aber darin gewohnt hat niemand lange. Weder der König noch seine Söhne.«
Wir erreichen das siebte und oberste Geschoss. Die überdachten, von zehneckigen Steinsäulen gesäumten Gänge sind angeordnet wie eine Swastika, jenes alte indische Glückssymbol, das die Nazis für ihre Zwecke missbrauchten. Über tiefer gelegene Innenhöfe führen sie in die einzelnen Gebäudetrakte. An die Decken der sechs Meter hohen Räumen sind Darstellungen von Krishna und seinen Milchmädchen, von Pfauen und Elefanten gemalt. Der Führer erklärt mir die unterschiedlichen Architekturstile anhand von in die Wände eingelassenen Nischen, die als Wandschränke dienten: Die obere Reihe im islamisch geprägten Mogulstil ist zwiebelförmig ausgeformt, die untere Reihe im klassischen Hindustil wird von geometrisch strengen, schmucklosen Rechtecken gebildet. Wir blicken hinaus auf die Stadt, über weiß getünchte Wohn-und Geschäftshäuser und einzelne historische Gebäude aus braunem Stein, die sich aus den Gassen erheben. Lärm von Mopeds und Motorrädern dringt hinauf, Rufe von Kindern oder Jugendlichen, eine Fahrradklingel und der Schall einer Tempelglocke. Am Pitambara Pith-Tempel im Ortseingang flackern die Lichter.
Ich laufe durch die Altstadt hinab zum Tempel und stelle meine Schuhe zu den anderen, die davor aufgereiht sind.
Absperrungen aus Metallgittern führen die Gläubigen in geordneten Schlangen in das zentrale Heiligtum für die Göttin Pitambara Pith und zahlreiche Nebentempel. Öllampen flackern in Mauernischen. Hunde laufen durch die Schatten. Ich erkenne Statuen der Götter Ganesh und Kali. Auf mehreren Bildern wird der Torso eines Glatzkopfes mit rosafarbenem Gesicht in einer Lotusblume gezeigt, Swami Maharaj, der Gründer der Anlage. Vor dem Haupttempel verteilt ein Priester Blumen, abgepackt in Zeitungspapier. Die Gläubigen schlagen eine Glocke, werfen sich unter der offenen Tür hin und berühren die Stufen im Eingang mit der Rechten, bevor sie eintreten.
Im Krishna-Tempel kommt mir ein junger Brahmane entgegen. Er trägt eine schwarze Weste über einem langen weißen Hemd, darunter lugt ein Dhoti hervor. Er führt mich zu seinem Meister, der lächelnd im Schneidersitz in einer Art Klosterzelle sitzt. Die an einer Seite offene Kammer wirkt wie ein Ausstellungsraum in einem Museum, wie ein Gehege in einem Zoo. Eine Maus hüpft zwischen Bücherstapeln und Bodenmatten herum. Der Meister lässt sich von einem jungen Priester Kautabak reichen und zerreibt ihn mit dem rechten Daumen in der linken Hand. Ich frage ihn, ob ich etwas tun kann, um den Erfolg meiner Reise zu sichern. Ob ich ein Opfer darbringen könne. Der Meister schickt den jungen Priester los, kurz darauf kommt dieser mit einem kleinen kupferfarbenen Gefäß voller Wasser zurück.
Wir gehen in den Krishna-Tempel. An einer Wand auf der linken Seite sitzt eine Reihe Brahmanen vor niedrigen Holztischen. Darauf liegen orangefarbene Tücher und abgewetzt wirkende Bücher. Die Priester murmeln Mantras und rezitieren etwas aus heiligen Schriften. Eine Mutter mit zwei Töchtern hockt versunken vor der Statue des Gottes, das jüngere
Mädchen lümmelt, auf dem Bauch liegend, auf dem Boden herum. »Warte, bis sie fertig sind«, sagt der junge Priester.
Nach zehn Minuten stehen die drei auf, wir gehen los. Aber die Brahmanen vor den Holztischen protestieren lautstark. Sie verhandeln mit ihrem jungen Kollegen. Mein Begleiter wendet sich zu mir: »Bei Nacht sollte man kein Wasser opfern«, erklärt er. Ich bin enttäuscht, ich fühle mich vor den Kopf gestoßen.
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