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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Angst vor den Drohungen und Verlockungen des Westens. Nicht vor dem Coca-Cola-Konzern,
den es zwang, das Land zu verlassen, weil er das Geheimrezept für seine Brause nicht herausrückte. Nicht vor den US-Sanktionen nach den Atomtests 1998. Doch dann verabschiedete sich New Delhi von Nehru-Sozialismus und Blockfreiheit, öffnete die Grenzen für den globalen Handel, pries sich der NATO als strategischer Partner an. Und jetzt, sechs Jahrzehnte nach dem Unabhängigkeitskampf, zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges, scheint es manchmal, als wäre dieses Land auf dem besten Weg, seine Freiheit und Eigenständigkeit wieder zu verlieren.

Eine finstere Macht
    Am nächsten Tag mache ich mich auf die Suche nach einem niedrigen Hügelzug, den George Everest und die englischen Geodäten The Ridge nannten: ein Streifen Grün, der Alt-Delhi im Nordwesten begrenzt, die höchste geografische Erhebung der Stadt.
     
    Für Everest entpuppt sich der allgegenwärtige Nebel in Delhi bereits bei seinen vorbereitenden Messungen als besondere Herausforderung. Er beschreibt ihn als »Erbsensuppe«. Mehrfach versucht William Rossenrode, ein Asisstent, der auch unter William Lambton arbeitete, von der Ridge aus ein Lichtsignal durch den dichten Dunst zur Messtation zu senden, an der Everest 45 Kilometer entfernt wartet. Aber vergeblich. Everest schimpft: »Sie haben mich bei dieser Messung in Delhi aufs Äußerste auf die Folter gespannt. Wenn Sie sich keine Mühe geben, wird Ihnen nie etwas gelingen, und ich sitze hier die nächsten sechs Jahre fest. Das mag Ihnen ja passen, hier in der Nähe einer gemütlichen Stadt, aber für mich und meine Leute ist es ein gehöriges Ärgernis, das sage ich Ihnen.« Er entlässt Rossenrode wie zuvor bereits zwei seiner britischen Mitarbeiter. Und macht sich selbst auf die Suche nach einem gegeigneten Ort für eine Messstation auf der Ridge .
    Zunächst fasst Everest eine alte Moschee als Beobachtungsstation ins Auge. Doch wie viele andere Gebäude auf dem Hügelzug ist sie nicht stabil genug, um die schweren Geräte
auf dem Dach zu installieren. Dann entdeckt er dort oben ein kuppelförmiges Gebäude, den Schrein von Pir Ghalib, einem muslimischen Heiligen. Er lässt einen Markierungsstein in den Boden setzen und ein Loch ins Dach bohren, die gängige Methode, um sicherzustellen, dass das Instrument auf dem Gebäude richtig positioniert ist. Und es gelingt ihm schließlich, von hier aus in Richtung Norden zu peilen. Was allerdings auch daran liegt, dass sich der Nebel endlich gelichtet hat.
    Die eigentliche Triangulation treibt Everest rund um Delhi ein paar Jahre später mit gewohnter kolonialer Rücksichtslosigkeit voran. Seine Trupps roden die damals noch dichten Wälder und wälzen ganze Dörfer platt, um Beobachtungsstationen zu errichten. Und sie verfallen, angesichts des nordindischen Nebels, auf eine neue Technik: Sie errichten jetzt Türme, zwölf bis achtzehn Meter hohe Bauwerke aus heimischen Ziegeln. Zweitausend Rupien kosten sie damals, vierzehn davon werden in der Tiefebene gebaut.
    Doch über die Einheimischen und ihre Behausungen können sie auch mit dieser neuen Methode nicht einfach hinwegpeilen. So liegen 1835 am Turm von Dateri, östlich Delhis, ein Dorf namens Ramnagar sowie die hohen Häuser der Stadt Bhataona mitten in der Visierlinie. Und die Briten zögern nicht lange. Kurzerhand lassen sie eine neun Meter breite Schneise durch die Siedlungen schlagen. In der Stadt werden »37 Häuser mit Flachdach dem Erdboden gleichgemacht«, im Dorf »fünf strohgedeckte Häuser durch das Fällen von Bäumen zerstört«.
     
    In Delhi scheinen die britischen Vermesser kaum Spuren hinterlassen zu haben. Zumindest auf der Ridge nicht. Von der Metrostation Jhandewalan laufe ich die Vandemataram Marg hinauf, bis sie in die Upper Ridge Road übergeht, und versuche hinter den kahlen Bäumen des unbelebten Stadtwaldes ein Kuppeldach
zu erspähen. Ohne Erfolg. Nach einer knappen Stunde des Herumirrens im vierspurigen Durchgangsverkehr bremst ein Dreiradtaxi neben mir. Er kenne das Grab des Heiligen auch nicht, sagt der Fahrer. Aber er könne helfen, es zu suchen.
    Wir knattern auf den Bezahlparkplatz des Buddha Jayanti-Parks. In der Anlage schlendern junge Paare auf gepflasterten Wegen zwischen abgezäunten Rasenflächen. Ich klettere einen Baum hinauf. Vielleicht kann ich von seinem Gipfel aus das Grab des Heiligen entdecken oder wenigsten den höchsten Punkt der Ridge ausfindig machen.

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