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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Aber ich sehe nichts als weitere Baumspitzen und undurchdringlichen Dunst. Als ich wieder hinabgeklettert bin, sind meine Hände und Hosenbeine schwarz vom Dreck der dicken Hauptstadtluft, die eine Rußschicht auf den Baumstamm gelegt hat.
    Nach zwei weiteren Kilometern laufe ich aufs Geratewohl mitten in den Wald hinein. Ich stolpere über felsigen Untergrund. Es riecht nach Kot und Abfall, als ich in das trockene Geäst unter den Bäumen tauche. Ein Viertelstunde lang kämpfe ich mich durch den Busch. Dann stehe ich auf einer Lichtung. Endlich sehe ich die Stadt. Westliche Quartiere wie Patel Nagar oder Karol Bagh müssen es sein. Sie ragen aus den niedrigen, bewaldeten Ausläufern des Hügelrückens, als wäre Delhi eine Stadt der Grünanlagen. Die goldene Kuppel eines Tempels und graue, quadratische Wohnhausklötze sind klar zu erkennen. Dahinter verschwimmt die Silhouette eines Hochhauses im Smog. Vielleicht haben die Vermesser unweit dieses Ortes gestanden. Vielleicht aber auch ganz woanders. In Delhi, so scheint es, sind ihre Spuren verwischt. Everests Wirken ist überwuchert von fast zweihundert Jahren Großstadtleben, überrollt von Millionen von Dreiradtaxis, Maruti-Kleinwagen und scheppernden Nahverkehrsbussen.
    Am dritten Tag in Delhi verwickeln mich die uniformierten Bediensteten meines Hotels in einen Streit über 20 Rupien für die Telefonnutzung, die angeblich nur bar zu bezahlen und nicht auf die Zimmerrechnung zu schreiben seien. Die Angestellten sind mir gegenüber genauso arrogant wie sie es gegenüber George waren.
    Von einem Dreiradtaxi lasse ich mich zu einem Bankautomaten fahren. Dann zu dem nächsten und zum übernächsten. Als der vierte und letzte Automat auf unserer Straßenseite nicht funktioniert, springe ich entnervt über die Straße auf die andere Seite, wo ich ein weiteres Finanzinstitut erspäht habe. Dabei lasse ich nachlässig meine Umhängetasche beim Fahrer liegen. Zurück am Taxi, die Taschen endlich wieder voll frischer Hunderter, beschimpft mich der Mann: »Wie kannst du das machen? Dies ist eine riesige Stadt. Hier gibt es Tausende Fahrer wie mich. Was hättest du getan, wenn ich einfach abgehauen wäre?«
    Kleinlaut lasse ich mich weiter zur Metro chauffieren, um in einen Stadtteil im Nordwesten der Stadt zu fahren. Gegen neun Uhr abends stehe ich in einem der feineren Wohngebiete nördlich von Shalimar Bagh in einem kleinen Park unter einer schneeweißen, barock wirkenden Statue der Göttin Saraswati. Davor salutiert eine Gruppe Kinder und Jugendlicher, der Nachwuchs des Hindunationalismus. Die Jungen tragen kurze braune Hosen wie einst die Nazipimpfe, dazu weiße Turnschuhe oder gar kein Schuhwerk. Es ist eine gespenstische Szene.
    Ich habe eine Verabredung im Herzen der Finsternis. Mit der Rashtriya Swayamsevak Sangh, kurz RSS, einer Kaderorganisation, deren Mitglieder mit Ministerpräsident Vajpayee zu höchsten politischen Ämtern kamen. Die als reaktionär und militant gefürchtet und von Kritikern als Faschisten bezeichnet
werden. Die für den Tod Mahatma Gandhis verantwortlich gemacht werden.
    Ein Mann in einer braunen Uniform tritt auf mich zu. Er ist glatt rasiert, hat graues Haar und leuchtende Augen. Sein Name ist Pravin Kumar. Er hat die Order, mir den RSS zu erklären. »Dies ist ein Shakha«, sagt Pravin. »Eine Übung für Körper und Geist. Was Sie hier sehen, findet täglich zweihundertfünfzigmal in Indien statt.«
    Ein dicker Mann versammelt die älteren Jungen um einen Kreis, der mit Kreide auf den Rasen gemalt ist. Er trägt ebenfalls eine kurze braune Hose, dazu zwei T-Shirts übereinander, das obere ist verdreckt vom Üben. Sein Hitlerbart ist säuberlich gestutzt. Es sieht aus, als würde Mussolini ein Kleid tragen. Er teilt die Jungen auf: Einer soll das Raubtier sein beim Spiel Bakri Sher, »Ziege und Löwe«, die anderen sind die Ziegen. Der Junge versucht, innerhalb des Kreises die Ziegen zu schnappen. Aber sie verpassen dem Löwen mit der offenen Hand Schläge auf den Kopf. » Jai Shivaji «, schreien sie dabei. »Es lebe Shivaji.« Gemeint ist Shivaji Maharaj, Anführer der Marathen im 17. Jahrhundert, ein hinduistisches Gegenstück zu den muslimischen Großmogulen. »Der Löwe muss tapfer sein«, sagt Parvin. »Er kann nur zuschnappen, während die Ziegen ihn schlagen.«
    Wir setzen uns auf den trockenen Rasen. Drei Kinder und eine Frau habe er, sagt Pravin. Sieben Jahre lang hat seine Familie in St. Francisco gelebt, bevor sie vor zwei

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