Indigo - Das Erwachen
hatte richtig geraten. Sie hatte es in dem verlassenen Parkhaus darauf ankommen lassen. Dieser Junge war ihretwegen verletzt. Sie hatte Mist gebaut, und er hatte den Preis bezahlt. Die Platzwunde an seinem Kopf bereitete ihr die gröÃten Sorgen.
Wenn etwas schieflief, dann nur wegen ihr.
Sie berührte seine Wange und spürte, dass er Fieber hatte. Eine Gehirnerschütterung war eine ernste Sache, und eine Hirnschwellung konnte ihn das Leben kosten. Die Wunden an seinem Körper zu versorgen hielt sie beschäftigt, aber ihn von auÃen zusammenzuflicken, würde nicht das heilen, was verhinderte, dass er die Augen öffnete.
Sie wusste nicht, ob sie das Richtige getan hatte â für ihn.
Es tut mir so leid. Das ist alles meine Schuld .
Zu einem richtigen Arzt konnte sie ihn nicht bringen. Das Risiko, dass jemand von ihrer StraÃenfamilie erfuhr, wäre einfach zu groÃ, und auÃerdem würden die Believers denJungen dann sofort finden. Er würde verschwinden, ohne dass es jemand bemerkte, und niemals eine zweite Chance auf Freiheit erhalten. Die Believers hatten einen langen Arm, und Kendra hatte gelernt, niemandem zu trauen. Aber dass sie es so sah, bedeutete nicht, dass er ebenso dachte.
Die Freiheit war für sie ein wertvolles Gut, das sie nicht für selbstverständlich hielt. Kinder und Jugendliche ihrer Art waren die perfekten Opfer. Denn wenn sie die Stimme erhoben und sich wehrten, würden sie genau das auslösen, was sie am meisten fürchteten: Die Menschheit würde begreifen, dass sie sich veränderte. Im Scheinwerferlicht zu stehen würde jedes einzelne ihrer Probleme vertiefen. Kendra wusste, wie sie selbst dazu stand. Sie würde lieber sterben, als irgendjemandes Sklavin oder Laborratte zu werden. Aber ging es diesem Jungen genauso? Würde er den Tod riskieren für das, woran er glaubte?
Sie hatte ihm die Entscheidung abgenommen, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.
Es gab Zeiten â Zeiten wie jetzt â, in denen Kendra sich nicht stark genug fühlte, nicht klug und nicht alt genug, um sich um ihre neue Familie zu kümmern. Einige von ihnen waren noch richtige Kinder. Sie schauten zu ihr auf â und sie zog eine glaubwürdige Show ab. Aber manchmal fühlte sie sich ihrer Loyalität nicht würdig. Je höher der Einsatz wurde, desto gröÃer wurden auch ihre Zweifel. Sie fühlte sich als Teil von etwas GröÃerem, dessen sie in ihren eigenen Augen gleichzeitig absolut unwürdig war.
Sie wachte verängstigt aus ihrem kurzen Dämmerzustand auf und hörte Geräusche im Dunkeln, die sie daran erinnerten, dass sie selbst noch nicht erwachsen war, sondern nur ein Mädchen, das einen Fehler gemacht hatte, durch den ein anderer ernsthaft verletzt worden war. Sie strich dem Jungen das Haar aus der Stirn und fuhr mit einem zitternden Finger über seine blassen Lippen, etwas, das sie niemals getan hätte, wenn er wach gewesen wäre.
Ich habe dich gerade erst gefunden. Bitte ⦠verlass mich nicht, bitte. Ich schaffe das nicht mehr alleine .
Kendra betete, dass er sie hören konnte. Wenn er starb, würde sie nicht einmal seinen Namen erfahren.
6. KAPITEL
Zentrum von L.A .
Einige Stunden später
Der Schmerz hatte Lucas schon lange, bevor er die Augen öffnete, fest im Griff. Er schoss von seinem pochenden Schädel aus seinen Rücken hinab in seinen ganzen Körper. Selbst seine Fingerspitzen taten weh. Er konnte die Hitze des Fiebers hinter seinen geschlossenen Lidern und in seiner Brust spüren. Als er seine Augen endlich einen Spaltbreit öffnete, wanden sich Schatten wie Rauch vor ihm. Durch das unscharfe Bild tanzten winzige, grelle Lichtflecken, die Erinnerungen an den Sternenhimmel über dem Parkhausdach in ihm weckten â das Letzte, was er gesehen hatte, ehe alles schwarz geworden war.
Lucas war übel, und er kämpfte mit tiefen Atemzügen gegen den Drang an, sich zu übergeben. Als sein Kopf klar genug war, um die Frage zu stellen, was geschehen war, suchte er in dem Raum, in dem er sich befand, nach Antworten. Flackerndes Licht erzeugte Schatten auf einer gegenüberliegenden Wand. Es dauerte ein wenig, bis er verstand, dass das sanfte Glühen von einer brennenden Kerze stammte.
In der Luft lag ein stickiger Geruch, der ihm das Atmen schwer machte. Er wusste nicht, woher er stammte, doch je länger er ihn einsog, desto ruhiger fühlte
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