Indigo (German Edition)
Häusler-Zinnbret?
– Tut mir leid, ich kann mich wirklich nicht mehr erinnern.
– Aber Sie könnten für mich nachschauen?
Ich musste eine Weile überlegen, was ich darauf antworten sollte. Es war klar, dass ich an eine empfindliche Stelle seines Bewusstseins gerührt hatte.
– Nein, ich glaube nicht. Ich wüsste nicht, wo ich danach suchen sollte.
– War es gedruckt? In einem Buch? Oder im Internet?
Ich zuckte die Achseln.
– Aber meist erinnert man sich doch zumindest an das Medium. Denn wenn es zum Beispiel in einem Buch war, kann ich Ihnen sogar den Autor nennen, so viele stehen da nämlich nicht zur Auswahl, ich könnte –
– Ich weiß es nicht mehr. Wirklich.
Er schien ein wenig in die Realität zurückzukommen, nur ein einziger Schritt trennte ihn von der gegenwärtigen Situation: er und ich, in seiner Wiener Wohnung, in der Walfischgasse 12 im ersten Bezirk. Es war Montag, siebzehn Uhr (ich war in Graz nicht früher von der Schule weggekommen). Oliver Baumherr war mir zunächst in einem Bademantel gegenübergestanden, hatte sich gleich für seinen Aufzug entschuldigt und war für mehrere Minuten verschwunden. Zurück war er in einem Trainingsanzug gekommen, wie man ihn vielleicht anzieht, um Joggen zu gehen. Er hatte gefragt, ob ich Tee möchte, und ich hatte Ja gesagt. Aber nach zwanzig Minuten Gespräch hatte er den Tee offenbar wieder vergessen. Ich hatte Mühe, mir vorzustellen, dass die Leitung eines Vereins in den Händen dieses offensichtlich desorganisierten Mannes lag.
– Wann haben Sie Ihren Verein gegründet?, fragte ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
Er trommelte mit dem Stift auf das unbeschriebene Blatt, das zwischen uns lag, zog die Luft durch die Zähne und lehnte sich zurück.
– Es ist nicht leicht, sagte er. Für mich. Und für die anderen. Sie müssen das verstehen, Herr Setz.
Ich nickte.
– Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man von allen Seiten angefeindet wird wegen einer Sache, der man sich verschrieben hat. Es ist schrecklich, was mit ihnen passiert, wissen Sie? Absolut schrecklich, erschreckend, entsetzlich, Sie können sich das ... also, Sie können sich das überhaupt nicht vorstellen.
– Mit den I... mit den Kindern?
– Ja.
– Was geschieht mit ihnen?
Er legte seinen Stift hin. Er spitzte die Lippen, dann sagte er:
– Wissen Sie, ich hatte nicht erwartet, dass Sie am Telefon nach Ferenc fragen. Das ist mir noch nie passiert. Sie waren in der Helianau?
– Ja.
– Wie lange?
– Eigentlich hätte ich ein halbes Jahr dort sein sollen, aber dann habe ich mich mit dem Leiter dort ... zerstritten.
– Freut mich, das zu hören.
Er nickte ernst, als er das sagte.
– Ferenc ist nicht einfach ein Mensch, das heißt ... zuerst natürlich schon. Aber ich habe Ihnen von Dr. Ferenc-Hollereith erzählt, um Ihre Reaktion zu testen. Mehr nicht. Heute ist es mehr ein Prinzip. Ein Prinzip, das von mehreren Menschen aufrechterhalten wird. Ferenc ist in deren Augen etwas Besonderes. Ein Künstler, sozusagen.
Oliver Baumherr leckte sich die Lippen und blickte in die Höhe zum Luster, der über unseren Köpfen hing.
– Aber er ist doch inzwischen gestorben, oder?
– Das Prinzip nicht. Aber der Mensch Ferenc-Hollereith, der ist tot. Well and truly dead.
– Ist er eigentlich der Erfinder der sogenannten Hollereith-Behandlung?, fragte ich.
Oliver Baumherr schnalzte mit der Zunge.
– Ah, totaler Unfug, die Hollereith-Behandlung ist ein Mythos. Diese Schwitzkuren, bei denen man abgehärtet wird für ... was weiß ich, die Finanzwelt, das Leben, Härte, Geheimbund, was weiß ich. Unsinn, Internet-Geschwätz. Genauso wie diese MK-Ultra-Projekte in den Vereinigten Staaten, die im Grunde nur eine Plattform für Schizophrene und Geltungssüchtige darstellen, die sich einbilden, die Regierung hätte sie in ihrer Kindheit zu Mördern ausgebildet.
Ich wartete, dass er weiterredete.
– Sie protestieren gar nicht, sagte er.
– Sollte ich?
– Aber wie lange hätten Sie mich denn jetzt noch weiterquatschen lassen auf die Art?
– Lange. Und ich hätte alles mitgeschrieben.
Er lachte und klatschte.
– Touché, touché, hahaha! Sehr gut.
Er rieb sich die Hände und überlegte. Dann lachte er noch einmal und sagte:
– Was hätten Sie getan, wenn ich dasselbe über den Holocaust gesagt hätte, dass alles nur ein Mythos ist, Gaskammern hat es gar nicht wirklich gegeben und so weiter?
– Ich hätte
Weitere Kostenlose Bücher