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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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ist.
    Schließlich stand ich auf, ein sich mit Tag-Geschwindig-keit bewegender Körper in der verlangsamten Nachtzeit. Ich fühlte mich wie ein Raumschiff.
    Ich nahm die Unterlagen, die mir Oliver Baumherr gegeben hatte, aus der grünen Mappe und studierte sie. Die Relokation der Magda T. Ich ordnete die Zeitungsausschnitte auf dem schmalen Hotel-Schreibtisch. In den ältesten Artikeln war das Gesicht eines Kindes zu sehen, das von einem schwarzen Anonymitätsbalken verdeckt war, dann, in den jüngeren, hatte man darauf verzichtet: ein Mädchen von dreizehn Jahren. Zahnspangenlächeln. Helle, fröhlich wirkende Augen.
    Ihr geht es jetzt gut, lautete der erste Satz eines Artikels. Er datierte vom 5. Mai 2001. In ihm wird erwähnt, dass der Vater, Theodor T., mit seiner Tochter irgendwann im Jahr 1999 umgezogen sei. Er sprach aber nicht von Umziehen, sondern von Relokation. Die früheste Erwähnung dieses Wortes, dachte ich in der Stimme des Oxford English Dictionary. Die kleine Familie wohnte nun bei einem Onkel des Mädchens, der Gefängniswärter in einer Justizanstalt an der deutsch-österreichischen Grenze war. Tagsüber habe sie oft in einem Raum gespielt, der völlig leer gewesen sei. Bei einer späteren Inspektion der Anstalt fiel den Beamten ein Raum auf, der wie ein Kinderzimmer eingerichtet war. Aber darin sei Magda niemals gewesen, hieß es, das Zimmer sei einzig für die Besuche von Kindern eingerichtet worden. Kindern von Häftlingen.
    Ich musste den Artikel noch einmal lesen. Irgendwo war ein Sprung in der Geschichte. Irgendwo war meine Konzentration verlorengegangen. Ich schloss die Augen, versuchte mich, trotz der Nachtzeit, zu sammeln. Also: Sie zog um,Relokation, okay, und wohnte bei einem Onkel, der war Gefängniswärter, auch klar, aber dann ... ein leerer Raum, in dem sie gespielt hatte. Oder eben nicht gespielt ... War der Raum in dem Gefängnis oder ... Der Artikel verriet es nicht. Im Stillen den Verfasser dieses verwirrenden, schlampig geschriebenen Textes verfluchend (ich stellte mir vor, wie ich ihm zur Strafe mit Filzstift einen kleinen Kreis auf die Wange malte und ihn dann der wütenden Menge überließ), nahm ich mir den nächsten Artikel vor.
    Erst als ich die ersten Zeilen gelesen hatte – Der schlimmste Tag meines Lebens war der Abend, an dem man mich zurückbrachte. Hingegen der schönste Tag war, als ich sah, wie der Mann auf der anderen Seite des Glasfensters mit seinen Fingern in seinen eigenen Ohren bohrte, bis Blut kam, da wusste ich, dass ich wirklich etwas Bes– erst nachdem diese Zeilen leer durch meinen Verstand gelaufen waren, fiel mir auf, dass meine Rachefantasie über den Verfasser des ersten Artikels vollkommen unsinnig gewesen war ... ein Ring auf der Wange, mit Filzstift oder Kugelschreiber ...
    Ich bemerkte, dass meine Hand auf dem Highspeed-Internet-Stecker lag. Ich nahm sie fort, und sie fühlte sich fremd an. Aus irgendeinem Grund war der Stecker eiskalt. Stechender Kopfschmerz flackerte kurz auf, verflog aber gleich wieder, als ich meine Stirn mit der kalten Hand berührte.
    Unter Zuhilfenahme meines Zeigefingers las ich weiter. Einmal war von Gefängnisausbruch die Rede, dann von Missbrauch, der allerdings schwer zu beweisen sei. Es fehle eine gesamteuropäische Gesetzgebung in Bezug auf I-Wirkung gegenüber Gefangenen. Der Name Brüssel fiel. Das Halten eines Kindes in einem gesonderten Raum stelle an sich kein nachweisbares ... Ein Verbrechen habe demnach nicht mit Sicherheit ... Vor ihrer endgültigen Befreiung durch ...
    Die Sätze lagen nebeneinander, und jeder Satz lugte überseinen Punkt hinweg auf den nächsten Satz, wie ein Wesen, das ein Wesen einer anderen Gattung anstarrt und dessen Geheimnis zu ergründen sucht.
    Dann nahm ich mir die von Oliver Baumherrs Kollegen angefertigten Aufzeichnungen vor.
    Anhand einiger disparater Bruchstücke hatte man versucht, Magda T.s lange und qualvolle Reise zu rekonstruieren. Keine einzige dieser Venn-Diagrammblasen machte den Ermittlern die Freude, sich mit einer anderen zu überschneiden. Das einzige Element, das allen Fragmenten gemeinsam war, war Magda. Sie war da, sah und erlebte. Und strich aus dem Gedächtnis, was ihr Bewusstsein überlastete:
    Hier eine Zusammenstellung von Dingen und Situationen, an die sich Magda erinnerte (handschriftlich notiert auf einem einzelnen Blatt):
    1) Eine Ebene irgendwo in einer sehr heißen Gegend und stundenlanges Gehen in der Sonne. Ein Schritt vor den anderen,

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