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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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zurückkamen. Aber dann dauerte es vierzehn Minuten. In der Stadt fand gerade ein Augmented-Reality-Kongress statt, und es gab massenweise orientierungslos herumtaumelnde, sich in nur für sie sichtbaren Preisschildern oder im Dickicht herumschwebender Touristen-Informationsblasen verlaufende ausländische Gäste, dievon allen zur Verfügung stehenden Taxis an diversen Straßenecken der Stadt abgeholt werden wollten.
    Robert wartete auf einer Bank unter einem großen Baum, blätterte in dem Buch des Lehrers und kontrollierte, ob die Anfangsbuchstaben der Kapitel vielleicht einen Satz oder zumindest ein Anagramm ergaben.
    Von Robert unbemerkt, flogen währenddessen Amseln aus der Krone des Baumes über ihm und tauchten lautlos in den nahen Park ab, nur um gleich wieder zurückzukehren. Sie brachten frische Zweige und fädelten sie in das wenige Meter oberhalb der Menschheit im Entstehen befindliche Nest ein, als vernähten sie eine Wunde im Baum.



7  Rue de la Loi
    [Grüne Mappe]
    Wenige Tage vor meiner Abreise nach Brüssel erhielt ich eine Spam-Mail mit der Betreffzeile: Going Belge? Der Absender war ein gewisser Merwin Thompson. Als ich die Nachricht öffnete, enthielt sie nur den bekannten Text für Erektionsmedikamente: Wanna Penis stay hard up all the time? Satisfy your wifes inner pleasure infinity! This really works have shown studies all around the world! Absolutely Powerful Unique Incredibly Penisstrength! Und so weiter. Ich las die Nachricht mehrere Male durch, auf der Suche nach versteckten Botschaften. Ich druckte sie aus und löschte sie anschließend aus meinem Posteingang.
    Als Julia ins Zimmer kam, versteckte ich das Blatt vor ihr. Ich legte es in die grüne Mappe, zu den anderen Unterlagen über Magda T. Hin und wieder naschte ich von ihnen, wenn ich mich unbeobachtet fühlte.
    Das gleichzeitige Flattern aller Roll-Buchstaben auf der sich alle paar Minuten von selbst aktualisierenden Anzeigetafel am Frankfurter Flughafen: wie ein plötzlicher Windstoß in den Blättern eines Baumes.
    Im Flugzeug von Frankfurt nach Brüssel las ich in meinem Lieblingsbuch, Miss Lonelyhearts von Nathanael West, das mich erfolgreich ablenkte von dem Zwang, ständig herausfinden zu müssen, wie waagerecht oder schräg das Flugzeug denn nun in der Luft hing. Irgendwann tauchte die Maschine ein in eine dichte Wolkenschicht, ein uniformes Grau, in das die Tragflächen ragten. Am Ende des Flügels, leicht verwischt vom dichten Wolkennebel,blinkte ein Licht, wie zum Beweis dafür, dass irgendwo noch ein Puls schlug. Im Inneren einer Wolke war es möglich, sich einzubilden, dass man auf dem Erdboden dahinfuhr. Ich legte das Buch beiseite und starrte ein wenig hinaus, direkt unter uns befindet sich Gras, dachte ich, Erde und Gras, deshalb ist die Fortbewegung auch so holprig. Eine holprige Almwiese.
    Ich musste an die Artikel über Magda T. denken und versuchte, mir ihr Gesicht vorzustellen, aber dann drängte sich das gütige Gottesantlitz von Lew Tolstoi dazwischen. Ich ärgerte mich besonders über jene Stelle, an der Magda sagt, sie würde gerne Astronautin werden, denn das sei ein Beruf, den sie ohne Weiteres ausüben könne. Dabei waren die psychischen Spätschäden von Missionen ins All noch weitgehend unerforscht. Fest stand nur, dass die Anzahl der Astronauten, die im Alter mit schweren Halluzinationen und ungewöhnlich rasch voranschreitenden Demenzerkrankungen zu kämpfen hatten, alarmierend hoch war. (Eine kurze Serie wilder Turbulenzen schüttelte uns durch.) Eine amerikanische Astronautin war in Erwachsenenwindeln nonstop mit dem Auto quer durch das Land gefahren, um eine Rivalin zu kidnappen. Ein anderer Astronaut war von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der Lage, sein eigenes Haus zu betreten, also schlief er über ein Jahr lang in einer Mülltonne und ernährte sich von Kakerlaken und Mäusen, die er, wie er sagte, wie Senftüten ausdrückte, um sie zu verspeisen. Ein anderer Astronaut verfiel kurz nach der Rückkehr von seinem ersten Weltraumspaziergang in eine Manie und brach sich beim Versuch, die Fassade eines hundertstöckigen Hochhauses zu erklettern, mehrere Rückenwirbel. Und der Leiter eines Trainingsprogramms für Schimpansen, die bei verschie-denen Missionen eingesetzt wurden, verfiel in den Siebzigerjahren einem religiösen Wahn und ließ sich von seinen Anhängern bei lebendigem Leib in einen Brückenpfeiler irgendwo in Oregon einmauern. Bestimmt zog der Beruf gerade solche Menschen an,

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