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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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die immer schon dazu neigten, sich Extremsituationen auszusetzen, aber es war auch möglich, dass die Auswirkungen der physischen Entfernung von der Erde bisher tatsächlich unterschätzt worden waren. Bei einer Marsmission wird die Erde mit freiem Auge nicht mehr wahrnehmbar sein, und wer weiß, welche neuen Formen der Panik in diesem Augenblick geboren werden.
    Die Landung in Brüssel war unruhig, zweimal fiel die Kabinenbeleuchtung aus, und eine alte Frau holte ihren Rosenkranz heraus und begann, Gott sei Dank lautlos, die kleinen Kügelchen zu klauben.
    Ich hatte mir angewöhnt, nach jeder erfolgreichen Landung zu denken: Ich bin in Wirklichkeit abgestürzt, Schmerz und Chaos, Tod und Höllenfahrt. Aber dann wird mir eine zweite Chance gewährt, ich darf aus dem grauen Asphodeliensumpf zurückkehren, wie eine zerbrochene Lampe werde ich vorsichtig auf die Barke gelegt, die mich ans andere Ufer bringt, zurück ins Diesseits, dort lässt man mich eine Weile zu Atem kommen. Langsam und mühevoll lerne ich wieder alle Fertigkeiten, die ich auf einen Schlag verlernt habe, links von rechts unterscheiden, kopfrechnen, sprechen, Leute und Gesichter erkennen, und steige genau da wieder ins Leben ein, wo ich herausgerissen wurde: Das Flugzeug ist gelandet, ein Wunder, und ich stehe tatsächlich auf dem Erdboden, dem alten, bekannten Grund, den ich eigentlich schon für immer verloren hatte. Selbst ein so farbloses Wesen wie die Sekretärin des Oeversee-Gymnasiums, der ich vorgejammert hatte, wie schlimm meine Magendarmgrippe sei, derentwegen ich diese Woche bestimmt zu Hause bleibenmüsse, erschien mir in diesem Augenblick wie ein echtes Wunder, ein Geschenk des Himmels.
    Solche Gedanken hatte ich, als ich im Taxi zu meinem Hotel fuhr, und dann dachte ich: Trotz dieser erhebenden, schönen Fantasie, die einem den ganzen Tag versüßen kann, wäre es doch unheimlich witzig, wenn ich beim Rück-flug tatsächlich und nicht nur in einer imaginären Paral-lelwelt abstürzte, wenn ich also durch meine Fantasie dem Schicksal diese Katastrophe erst schmackhaft gemacht, den Ironie-Einsatz am Spieltisch quasi erhöht hätte ...
    Und schon hatte ich Panik.
    Ich war nicht einmal mehr dazu fähig, den fatalen Gedankengang zurückzuverfolgen, um ihn nachträglich zu korrigie-ren. Ich ließ den Taxifahrer anhalten, bezahlte und suchte mir ein kleines Café, das funktionierte fast immer, je dunkler das Café, desto stärker die Wirkung, kurz nach dem Betreten fühlt man sich angenehm körperlos ... Bald ging es mir etwas besser, und um das Ganze abzurunden, bestellte ich mir eine Reihe von kindischen Dingen wie eine große Cola und ein paar Kugeln Eis mit Schlagsahne (inklusive, wie ich hoffte, einer fächerförmigen Waffel und einem kleinen Glitzerschirmchen, dessen dünnen hölzernen Stiel ich als Erstes ablecken würde).
    Ich zog die grüne Mappe aus meinem Rucksack und las wahllos in den von Oliver Baumherr und seinen Kollegen zusammengestellten Unterlagen.
    Besonders lustig fand ich einen Bericht, in dem erwähnt wurde, dass die beiden Entführer, die Magda T. irgendwann von ihrem Vater und ihrem Onkel wegholten, um sie nach Hause zu bringen, offenbar unter starkem Drogeneinfluss gestanden haben mussten (ständiges Lippenbeißen, zwanghaftes Kopfschütteln), so dass sie die Symptome nicht auf die Gegenwart des Indigo-Kindes auf dem Rücksitz, sondernauf die Wirkung des Rauschmittels schoben. Schlau. Sie ließen Magda T. irgendwo in der Nähe einer psychiatrischen Klinik raus, fuhren im Auto davon und hinter-ließen keine weitere Spur.
    Sie sei über eine weiße Freitreppe ins Innere des großen Gebäudes gelaufen und habe dort dem ersten Menschen, dem sie begegnete, erklärt, wer sie sei und wo sie wohne. Das habe allerdings nicht auf Anhieb funktioniert, da der Mann sehr schwer von Begriff gewesen sei. Er habe sie nur immer angesehen und den Kopf geschüttelt.
    Dann sei ein anderer Mann gekommen und habe sie von dem ersten Mann weggeführt. Dieser zweite Mann sei um vieles zugänglicher und verständiger gewesen. Er habe sie nach ihrem Namen gefragt, nach ihrer Adresse, nach den Namen ihrer Eltern, nach ihrem Geburtstag, nach ihrer Lieblingseissorte, nach dem Namen ihres Kopfkissens, nach dem genauen Alter ihrer Fingernägel. Die wüchsen nämlich alle paar Wochen vollständig nach, meinte er, auch wenn man sie abzöge, als Ganzes – das sei zwar sehr schmerzhaft, doch könnte man sicher sein, dass sie irgendwann wieder da

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