Indigo (German Edition)
Indigo, ein Digger! Und dann lachten sie alle.
– Ich versteh dich nicht, sagte Julia, du redest so wirr. Und so schnell. Komm, gehen wir hier lang.
Wir bogen in einen Weg ein, der den Teich entlangführte. Auf einer Wiese spielten ein paar Jugendliche mit einem alten schwarzen Hut Fußball.
– Aber es ist doch falsch, oder?
– Was?
– Das Wort xenopathisch, sagte ich. Das heißt nicht, dassich andere Leute krank mache. Das heißt, dass ich von Fremdem krank werde.
Julia nahm meine Hand und steckte sie zu sich in die Manteltasche. Meine Finger stießen gegen ihren Seifenblasenspender und ein zusammengeknülltes Taschentuch.
– Du schweifst so leicht ab, sagte sie.
– Ja, sagte ich. Ich hab vermutlich einen Ohrwurm von den Leuten in Brüssel. Ich meine, wir waren in dieser Bar, oder nein, es war ein Club, mit einem komischen flämischen Namen, keine Ahnung, X-1 oder so, und dort reden die alle so schnell, das Plappern ...
– Es ist schlimmer als sonst, sagte Julia.
Sie hatte recht. Am Abend zuvor hatte ich mich hingesetzt und nach langer Abstinenz wieder einmal versucht, etwas Mathematik zu machen, aber ständig rutschte mein Blick ab von der geschwungenen Mengenklammer, das Papier voll Gruppentheorie verschwamm vor meinen Augen, und die Symbole führten einen merkwürdigen Mummenschanz auf, einen Tanz im luftleeren Raum.
– Hast du eigentlich dem Residenz Verlag schon etwas geschickt?
– Wie?
– Na, dem freundlichen Lektor, der angerufen hat. Ich hab’s dir doch gesagt. Seinen Namen hab ich dir auch aufgeschrieben. Er hat gesagt, er würde sich freuen ...
– Äh, ich weiß nicht, sagte ich, aber ... weißt du, diese Jugendlichen haben kein Recht, sich so aufzuführen, ich meine, schau, welches T-Shirt der dort trägt.
Die Jugendlichen waren einige Meter entfernt, und Julia schaute gar nicht erst hin, sondern neigte ihren Kopf etwas zur Seite, damit ich ihr die Antwort sagen konnte:
– Dingo Rat.
– Hm, komisch, sagte Julia.
Ich blickte kurz in den Himmel, und die Sonne war ein sich flirrend drehendes Windrad über den Hochhäusern. Ein weißer, temperaturloser Schmerz fuhr in meinen Kopf.
Die Bezeichnung sei doppelt und dreifach unfair, sagte ich zu Julia, denn es sei doch erwiesen, dass Ratten die bemerkenswertesten Kreaturen überhaupt auf diesem Planeten seien, sogar noch faszinierender als die unsterbliche Quallenart Turritopsis nutricula oder jene mysteriöse Seegurkenart, deren Zellen ab einem gewissen Zeitpunkt in ihrer Entwicklung nicht mehr altern. Die Ratten, sagte ich, seien nach einer unendlich komplexen sozialen Hierarchie organisiert, so vielschichtig und nuancenreich, dass es uns, den menschlichen Beobachtern, in den meisten Fällen naturgemäß wie chaotisches Gewusel, wie sinnloses Übereinanderrennen und Aneinandervorbeiquetschen erscheinen müsse. Das Gegenteil sei der Fall, jede Ratte habe ein genaues Abbild der gesamten Rattenpopulation im Kopf, der sie angehöre, und wenn eine stirbt, verändert sich ihr Platz im großen Ganzen um eine mikroskopische Einheit nach unten oder oben, nach links oder nach rechts, je nachdem, die Rattenpopulation in den Untergrundwelten der Großstädte, etwa in der Kanalisation oder in den U-Bahn-Schächten, sei mit einem durch rätselhafte, wahrscheinlich uralte Kommunikationsfäden zusammengehaltenen Fischschwarm zu vergleichen, die Enge und das verbindende Element des Wassers werde bei ihnen lediglich ersetzt durch etwas, das uns noch nicht bekannt sei, möglicherweise eines dieser morphischen Feld-Dinger, sagte ich, an die man aber, da sie ein reiner Glaubensartikel seien, natürlich nicht glauben könne.
– Vielleicht muss man es sich vorstellen wie dieses Zonenspiel, hab ich dir davon schon mal erzählt?
Julia hakte sich bei mir unter und sagte:
– Erzähl mir lieber weiter von den Ratten.
– Ratten, okay. Reden wir über Ratten. Ratten sind wichtiger.
– Bitte.
– Also die existieren da in diesem Zwischenbereich, der Gestein und Erdkruste von moderner Zivilisation trennt, und natürlich wohnen da auch ein paar Menschen, meist Obdachlose, und es hängt dann natürlich von der jeweiligen Stadt ab, ob sie dort wirklich leben können oder bloß zum Sterben hingehen. Ich hab da mal einen Bericht über Leute in stillgelegten Tunnels gesehen. Da waren ein paar gruselige Dinge dabei, zum Beispiel ist einer einen ganzen Monat mit einer tiefen Schnittwunde irgendwo gelegen, wo der Untergrund feucht und
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