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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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sauerstoffreiche Waldluft meine Lungen füllen. Es fühlte sich gut an, und mir wurde ein wenig leichter. Die Übelkeit verging, ich richtete mich auf.
    – Es sind nur die Nerven, wiederholte der Chauffeur. In Wirklichkeit können Sie hier noch gar nichts spüren. Wir sind noch mindestens hundert Meter entfernt.
    Ich wollte ihm erklären, dass es nichts damit zu tun hatte, aber das Bedürfnis, noch ein paar Sekunden einfach nur dazustehen und zu atmen, war größer, also sagte ich nichts.
    – Sie haben sich wahrscheinlich eingeredet, sagte der Mann mitruhiger Stimme, dass Sie bald in die Zone kommen werden. Das geht vielen so.
    Er klopfte mir freundlich auf die Schulter.
    Ein Auto fuhr an uns vorbei die Waldstraße hinauf. Ein Mercedes. Ich blickte ihm nach, bis er um eine Kurve bog. Dann sagte ich zum Fahrer:
    – Nein, das war es nicht. Ich hab … Wissen Sie, ich hab ein Problem mit riesigen Gebäuden, das heißt mit solchen Instituten, Sanatorien oder … ja, einfach mit dieser Bauart, ich …
    Mir wurde wieder ein wenig übel. Ich stützte mich auf meinen Knien ab und atmete tief durch.
    – Was für ein Problem?, fragte er.
    Also erzählte ich ihm, am Rand der kühl-schattigen Waldstraße stehend, dass ich über eine merkwürdige Phantom-Erinnerung aus meiner frühesten Kindheit verfügte. Aber im Gegensatz zu anderen Leuten, die darin gleich den Beweis für ein früheres Leben sehen, glaube ich, dass diese Erinnerung in meinem jungen Gehirn einfach falsch abgelegt wurde, unter Selbst erlebt statt, richtigerweise, unter Im Fernsehen gesehen oder Geträumt. Solche Verwechslungen passieren eben.
    – Und die Erinnerung hat mit so was zu tun?
    Er deutete auf den großen Gebäudekomplex, der aus der Nähe tatsächlich noch ehrfurchtgebietender wirkte als vom Zugfenster aus. Durch die lichten Baumreihen konnte man, obwohl nur ein Teil zu sehen war, seine ungeheuren Ausmaße erahnen.
    – Na ja, ich weiß es nicht, sagte ich. Ich erinnere mich an eine Zeit, die ich in einem riesigen Institut verbracht habe … und an die Langeweile, die ich empfunden habe, wenn ich den ganzen Nachmittag im Garten gewartet habe.
    – Worauf gewartet?
    – Darauf, dass man mich abholt. Aus dem Garten führt eine unheimliche, schneeweiße Freitreppe zu der Tür hoch … und dahinter sind Hunderte Räume, links und rechts, eine Tür neben der anderen, und ganz hinten ein Zimmer, wo der Arzt wohnt.
    Der Chauffeur nickte.
    Ich hatte diese Geschichte, außer meiner Freundin, noch nie jemandem erzählt. Und nun also diesem Mann, von dem ich nicht einmal den Namen wusste und der einen eigenartigen Filzstift-Kreis auf der Wange hatte. Er steckte sich eine Zigarette an, machte einen tiefen, gedankenvollen Lungenzug und schaute in den Himmel.
    – Na ja, sagte er. Das kommt vor. Solche Sachen.
    – Das Witzige ist, dass ich natürlich keine bewusste Erinnerung an meine ersten drei Jahre habe, sagte ich. Wie die meisten Leute weiß ich erst so ab dem vierten, fünften Lebensjahr, was passiert ist, vorher ist alles irgendwie …
    Ich machte eine vage Geste mit beiden Händen.
    – Mhm, nickte der Chauffeur, als hätte er dergleichen schon Hunderte Male gehört.
    – Deswegen meine Aufregung vorhin, sagte ich.
    – Schon klar, sagte er. Geht allen so.
    Ich überlegte mir, was ich machen würde, wenn ich im Garten des Instituts die Freitreppe aus meiner Erinnerung entdecken würde. Sollte ich dann in Panik geraten?
    Der Chauffeur, der meine Unruhe bemerkt hatte, hielt mir seine Zigarettenschachtel hin. Ich winkte ab:
    – Nein danke.
    Er steckte die Packung wieder ein, nahm einen weiteren tiefen Zug von seiner Zigarette. Dann sagte er:
    – Sie können den restlichen Weg zu Fuß gehen, wenn Sie möchten. Ich sag dann beim Portier Bescheid.
    Ein Reisebus wartete vor dem Haupteingang in der Sonne. Neben ihm am Boden stand ein an einen muskulösen braunen Männertorso erinnernder Benzinkanister. Es war warm, ein schwacher Essensgeruch lag in der Luft, und in der gelben Gartenzypressenhecke, die rechts vom Haupteingang verlief, schwirrten und tschilpten Spatzen.
    Ich wurde vom Chauffeur am Tor erwartet. Er zeigte mir den Klingelknopf, ich drückte. Eine Stimme meldete sich, und der Chauffeur beugte sich zur Gegensprechanlage und sagte:
    – Ja, bitte, der Herr Seitz für neun Uhr!
    Dann verabschiedete er sich mit einem Winken. Hinter mir hörte ich ihn pfeifen, wahrscheinlich vor Erleichterung. Das Tor surrte und sprang von

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