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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Trauben schmeckte, und machte sich daran, die Bilder im Geiste umzumalen. Eine kollegiale Geste. Das erste Gemälde transponierte er in ein verrenktes Strichmännchen, dessen Glieder sich in einem jeweils unterschiedlichen Grad der Schärfe oder Unschärfe präsentierten. Das Strichmännchen trug einen Hut, und aus seinem Gesicht ragte eine Zigarre oder vielleicht auch ein Schornstein. Selbst wenn es sich zweifellos um die Form eines Menschen handelte, erweckte das dargestellte Wesen den Eindruck einer Ur-Gestalt, die man in Träumen in den etwas zu hellen Winkeln einer Kirche oder in Räumen, in denen der Kontrast nicht stimmte, antraf.
    – Herzlichen Glückwunsch, hörte er eine Stimme hinter sich.
    Robert täuschte einen schlimmen Hustenanfall vor. Der unsichtbare Gratulant zog sich zurück.
    Die Leute auf der Feier wurden nach und nach immer betrunkener und begannen, einander ihre Geheimnisse zu erzählen. Robert hörte einige Minuten lang einer jungen Frau zu, die ihm erklärte, dass sie endlich ihren Frieden gemacht habe mit der Welt, nach so vielen Jahren, und dass das daraus resultierende Kunstwerk den Titel Men’s True All Blood trage. Er nickte und fragte, was es darstelle. Die Frau lachte darüber, als hätte er einen Scherz gemacht. Robert stellte sich vor, wie sie wohl ohne Augenbrauen aussah. So ein bisschen mit dem Lötkolben … Und anstelle der Augenbrauen eine aus kleinen x-en genähte Narbenlinie. Wucherndes Keloid. Er ging zum Buffet und nahm sich ein Brot mit Käse und einer halben Weintraube und einem Tupfer Mayonnaise. Aus den Lautsprechern kam nun eine von einem Jazztrio gespielte Version des Soundtracks von Jurassic Park.
    Robert sah auf die Uhr.
    Es wäre immer noch unhöflich gegenüber den Veranstaltern, wenn er jetzt schon verschwand. Er hasste diese Menschen, die ihm dreitausend Euro für ein Bild geschenkt hatten, dafür, dass sieeine derartige Macht über ihn besaßen. Fast wie eine Fernsteuerung, mit der man ein Auto in der Nachbarwohnung herumfahren und gegen die Wände knallen lassen konnte.
    Die junge Frau von vorhin kam wieder auf ihn zu. Sie sei nur kurz draußen gewesen, sagte sie. Sie sah etwas verschreckt aus. Robert, der das starke Bedürfnis hatte, sich an irgendetwas zu weiden, fragte sie, was passiert sei, sie wirke eigenartig. Ach, es sei nichts, meinte die junge Frau, sie habe einfach nach Hause gehen wollen, aber da draußen seien kleine Tiere in den Bäumen herumgehüpft und so sei sie eben wieder zurück ins Bankfoyer gekommen.
    – Münker?
    – Nein, was anderes, sagte die Frau.
    – Ach so, die Tiere, sagte Robert und nickte. Keine Angst, die sind wegen mir da.
    Die Frau schaute ihn an, als hätte er sich vor ihren Augen in einen riesigen Stier verwandelt. Mit einem Jungs-sind-doof - Blick ließ sie ihn stehen. Später, als die Traube betrunkener und mit fortschreitender Stunde immer sentimentaler werdender Menschen um ihn dichter zu werden drohte, erzeugte Robert eine Blase um sich, in der er atmen konnte, indem er über die heutige Kunst an sich, die Fotografie im Speziellen, die Zwillingsforschung (ein zufällig aus der Luft gegriffenes Thema) und, natürlich, das alte Problem von Henne und Ei zu plappern begann, auch die Brüsseler Gesetzgebung streifte er kurz, obwohl er auch davon nicht die geringste Ahnung hatte. Es war ganz egal, man hörte ihm zu. Und man gratulierte ihm noch einmal zur Auszeichnung. Er bedankte sich und fragte alle möglichen Leute, ob draußen immer noch die Lemuren in den Bäumen säßen. Manche schauten belustigt oder fragend, manche lachten, andere nickten ernst.
    Robert ging auf ein helles Toilettensymbol am Ende eines Korridors zu. Hier war eine Leuchtstoffröhre, vermutlich schon vor Jahren, infolge ihrer Einsamkeit verrückt geworden. Sie flackerte undsurrte ein unverständliches Medley von Morsezeichen, ein wirres Lidflimmern. So lange hatte sie gewartet, bis endlich jemand unter ihr stehenblieb, und jetzt brach alles, was sich in ihr aufgestaut hatte, gleichzeitig aus ihr heraus.
    Robert war sehr erleichtert, als er die Toilette betrat. Das war doch ein Paradies. Woran man sich hier abreagieren konnte! Leicht abschraubbare (nicht so wie im Krankenzimmer in Cordulas Psychiatrie!) Henkel und Griffe am Wasserhahn. Und die Türschnalle an der Klokabine war ein wenig lose. Er berührte sie vorsichtig und versetzte ihr dann den Gnadenstoß. Er hielt sie in der Hand, atmete tief durch, schloss die Augen, für einen Moment

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