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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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zum …?
    – Haupthaus.
    – Ja, da wollten wir ja auch hin, ja … Schön, schön …
    Die ganze Zeit musste ich denken: Ich spüre nichts. Überhaupt nichts. Ein normaler Junge. Ein normaler Tag. Keine Wirkung. Alles Hirngespinste.
    Max nickte und wischte wieder die nichtvorhandene Strähne beiseite.
    – Ich glaube, wir gehen dann besser wieder, sagte der Direktor und tupfte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. War schön, dich zu treffen, Max. Ah, und … sagst du bitte dem Herrn Mauritz, dass er die Schlüssel heute Abend schon gegen achtzehn Uhr zu mir heraufbringen soll? Wegen dem Bus. Und …
    – Okay, sagte Max und wich ein paar Schritte zurück.
    – Ja, und kannst du ihm auch sagen, dass die Hoftür noch immer quietscht. Er muss sich das anschauen. Heute. Ja?
    – Mhm.
    Max’ Rückwärtsbewegung schien sich unbewusst zu vollziehen, sie wirkte wie eine natürliche Reaktion, wie das Aneinanderreiben der Handflächen, wenn man etwas beschlossen hat, oder das von einem Bein aufs andere Treten, wenn man ungeduldig auf etwas wartet.
    – Also gut, okay, sagte der Direktor und machte nun auch ein paar Schritte zurück.
    Da ich nicht allein in der Mitte stehen bleiben wollte, folgte ich ihm.
    Max winkte noch einmal und marschierte dann in seinem von gelegentlichen Tics und Zuckungen begleiteten eckigen Gang aufs Hauptgebäude zu.
    – Er merkt natürlich, wenn die Wirkung einsetzt. Die Kinder sind ja nicht blöd, was das betrifft. Also entwickelt sich so eine Art Etikette, die man nach und nach lernt. Auch dafür ist es gut, wenn man hier im Institut ist.
    Weit entfernt ertönte eine Klingel. Kurz darauf kam ein weiterer Schüler über das Feld. Er hatte denselben abgehackten, zackigen Gang wie Max und winkte uns aus einiger Entfernung zu. Die Gesten erinnerten an einen Fechter.
    Dr. Rudolph winkte zurück, ich tat dasselbe. Der Bursche, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, blieb stehen, und ich wollte mich schon in Bewegung setzen, um ihn aus der Nähe zu begrüßen, aber Dr. Rudolph hielt mich sanft zurück. Auch der Junge stellte seine Handflächen zu einer höflichen Stopp-Geste auf.
    – Neuer Tutor!, rief der Direktor und deutete auf mich.
    Der Junge machte eine elegante Verbeugung und sagte dann etwas, das ich zwar hören, aber nicht sofort verstehen konnte. Er redete gleichzeitig schnell und langsam, wie der abbrechende Live-Stream eines Internetvideos. An diesem Tag nahm ich zum ersten Mal die seltsame Misch-Sprache der Institutskinder wahr, ein enorm schnelles, wahrscheinlich an die Differenziertheit einer Gebärdensprache heranreichendes System von Handzeichen, verbunden mit etwas lauterem, stark akzentuiertem und manche Silben unnatürlich in die Länge ziehendem Sprechen. Es klang, als artikulierten sie durch ein Megaphon, das einen etwas zu langen Nachhall erzeugte. (Wenig später sah ich im Speisesaal des Instituts einen Schüler, der tatsächlich ein kleines hellblaues Megaphon an einem schwarzen Lederband um den Hals trug.)
    Nachdem der Junge weitergegangen war, klingelte es erneut, und ein weiteres Kind tauchte auf.
    – Die kommen nacheinander heraus?
    – Es gibt eine Reihenfolge, sagte Dr. Rudolph. Eine Reihenfolge …
    Er schien nicht ganz bei der Sache.
    – Robert hat komisch ausgesehen, sagte er. Haben Sie sein Auge bemerkt?
    – Nein.
    – Ja, sagte er nachdenklich. Blöde Geschichte, wenn das wieder … Wissen Sie was, ich werde kurz … nur einen Augenblick, ja?
    Er holte sein Handy aus der Tasche und rief jemanden an. Da er sich einige Schritte von mir entfernte, konnte ich nicht verstehen, was er sagte. Ich stand allein auf meinem Flecken Erde und rührte mich nicht. Wie eine Schachfigur, die darauf wartet, weitergeschoben zu werden. Von allein käme sie nie auf die Idee, ihr Feld zu verlassen.
    Der Speisesaal war ein auffallend niedriger, aber großer Raum. In ihm standen lange Tischreihen, die alle paar Meter von einem Stuhl ergänzt wurden. Man konnte die Stühle wie Lautstärkeregler an den Tischen entlangschieben.
    Als der Direktor und ich eintraten, drehten sich einige Köpfe nach uns um. Dr. Rudolph ging zu einem an die Wand gerückten Pult und betätigte den Schalter an einer Gegensprechanlage.
    – Mahlzeit, meine Herrschaften!, kam es aus den Lautsprechern, die in jeder Ecke des Raumes hingen.
    – Mahlzeit, erwiderten die Schüler.
    Wir gingen durch den Speisesaal, an den Essgeräuschen der Schüler vorbei. Mir fiel auf:

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