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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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zufrieden, frei. Dann leerte er seine Blase und ging, ohne sich die Hände zu waschen, zurück ins Foyer. Er gab so vielen Menschen wie möglich die Hand, und als ein eigenartig hagerer Mann an die Reihe kam, nahm Robert im ersten Augenblick gar nicht wahr, dass der Mann ihn ansprach. Das offen und aufmerksam wirkende Gesicht zierten lange Koteletten. Das Haupthaar war zurückgewichen, nur noch ein Atoll aus grauen, ehemals schwarzen Haaren war übrig geblieben. Der Mann war ungewöhnlich dünn, und was das Auffallendste war: Er hatte überhaupt keine Schultern. Hätte er ein schwarzes Cape getragen, hätte er ausgesehen wie eine Temaki-Rolle.
    – Batman, entgegnete Robert auf das, was der dünne Mann ihm gesagt hatte.
    Er hoffte, dadurch seinen Standpunkt klar genug gemacht zu haben.
    – Schön, Sie zu treffen, sagte der Mann. Herr Tätzel.
    – Äh, kennen wir uns?
    – Nein, das wohl nicht, sagte der andere.
    Er hatte einen eigenartigen Akzent, irgendwie französisch, aber auch noch etwas anderes, vielleicht rumänisch. Robert stellte sich vor, wie viele tausend Moleküle seines Urins gerade auf die Hand dieses Witzbolds gewandert waren.
    – Ich fürchte …, begann der Mann und seufzte.
    Robert wartete.
    – Ich fürchte, ich mag Ihr Bild, sagte der Mann und trat etwas näher an ihn heran.
    – Ah ja, sagte Robert.
    – Ich weiß gar nicht, womit ich seine Wirkung auf mich vergleichen soll. Am ehesten vielleicht noch mit diesem … Kennen Sie das Stück Für Alina von Arvo Pärt?
    Robert schüttelte den Kopf.
    – Es ist ein ganz besonderes Stück, finde ich. Die gebildete Menschheit komponiert ja heutzutage nicht mehr in Melodien, in Harmonien und so weiter. Es sind immer Strukturen, abstrakte Formen … na ja, egal. Aber das Stück von Pärt ist etwas ganz anderes, man weiß gar nicht, wo man beginnen soll …
    – Ach so, ja, sagte Robert und wandte sich ab.
    Der Mann hielt ihn an der Schulter fest. Roberts Augen wurden größer. Der Dünne lächelte, griff in seine Tasche und drückte ihm eine Visitenkarte in die Hand. Auf ihr stand kein Name. Nur der Name einer Firma: InterF.
    Darunter eine Postadresse in Belgien. E-Mail: [email protected].
    – Pärts Musik ist genauso wie Ihr Bild hier. Von der Katze. Diese Stille. Wissen Sie, es ist ein Stück für Klavier. Und die Begleitung der linken Hand besteht nur aus einem h-Moll-Dreiklang, der einfach auf und ab gespielt wird. Vollkommen langweilig. Und die rechte Hand spielt eine ähnliche Melodie. Er summte ein kurzes Stück davon vor. Und zusammen ergeben sie diese absolute Stille. Man kann das Stück auf der Straße hören, mit Kopfhörern … und man ist plötzlich allein. Plötzlich ruhig. Nicht mehr diese Elektrizität in den Knochen, überall, wissen Sie, was ich meine?
    Robert hatte das Gefühl, dass alle anderen Gäste mindestens einen Meter von ihnen beiden fortgerückt waren. Am liebsten hätte er seine Arme nach ihnen ausgestreckt. Das Glas, das er in der Hand hielt, hatte zu schwitzen begonnen.
    – Ich glaube schon, sagte er. Sagen Sie, wie war Ihr Name?
    – Nach so langer Zeit endlich ein Augenblick, in dem die Zeigerstillstehen, sagte der Mann. Oder die Geigerzähler. Oder die Sirenen. Einfach nur Stille. Das ist eine gewaltige Leistung, wissen Sie? Wie haben Sie das gemacht?
    – Äh …
    Robert hob die Arme.
    – Ich weiß schon, sagte der Mann. Ist nicht leicht zu beschreiben. Der künstlerische Prozess. Aber die Ruhe, die Sie da gefunden haben, ist wie ein besonderer Weinjahrgang. Man kann sie nur in kleinen Dosen genießen, nicht zu viel. Sie waren Schüler, nicht? Im Institut?
    – Sie meinen in der Helianau?
    – Im Helianau-Institut, genau. Es steht in Ihrer Vita.
    – Hm.
    – Ein ausgebrannter Fall, sagte der Mann in sein Sektglas, als er es zum Mund führte.
    – Wie bitte?
    – Ein interessanter Fall. Alles in allem. Wissen Sie, ich hätte Ihre Bekanntschaft vielleicht schon früher gemacht, Herr Tätzel. Aber dann haben sich die Parameter sozusagen verschoben. Beziehungsweise sind verschoben worden.
    – Was?
    – Die Parameter, nach denen wir existieren. Die Umstände.
    – Haben Sie am Institut unterrichtet?
    Eine dumme Frage. Robert wusste doch, dass die Antwort darauf Nein war. Er kannte schließlich alle Lehrer, und die paar Namen und Gesichter im Kopf zu behalten war nun wirklich keine große Gedächtnisleistung.
    – Nein, sagte der Mann. Ich war nie wirklich dort.
    – Aha.
    – Erlauben Sie

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