Indigo (German Edition)
Wenn die Löffel gegen die Suppenteller stießen, ergab das einen glockenartigen hellen Klang, der an das leise Geläute einer grasenden Kuhherde erinnerte.
– Und wie viele Indigo-Kinder sind in einer Klasse?, fragte ich.
Dr. Rudolphs Augen wurden für einen kurzen Augenblick größer. Dann sagte er ruhig:
– Wir verwenden hier das I-Wort nicht.
– Oh, ich wusste nicht –
– Nein, wir beziehen uns generell nicht so sehr auf die Wahrnehmung der Außenwelt, sondern mehr auf die eigenen Umgebungs- und Proximitätskonzepte, die diese jungen Menschen –
– Entschuldigung, sagte ich.
Wir bogen durch eine offenstehende Tür in einen Korridor. Hier hingen einige großformatige Bilder an der Wand. Dr. Rudolph wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann sagte er:
– Ihr Mathematikprofessor, Herr Sievert … Er hat Sie mir vorgeschlagen, weil Sie, wie er sagt, ein wirklich engagierter Student waren. Sie haben Disziplin, meint er.
– Das ist nett von ihm.
– Ja, und ich nehme solche Empfehlungen auch immer sehr ernst, wissen Sie. Aber eine Frage hätte ich doch, Herr Sei… Setz, oder?
– Ja.
– Herr Setz. Die Frage ist: Warum interessieren Sie sich gerade für dieses Institut?
– Na ja, die Praktikumsstellen sind …, begann ich.
Die Augenbrauen von Dr. Rudolph hoben sich.
– Ich meine, es ist eine interessante Herausforderung, mit jungen Menschen zu arbeiten, die … die …
– Sie meinen also, dass man heute nur sehr schwer eine Praktikumsstelle bekommt. Das ist sicher richtig. Und da haben Sie einfach genommen, was man Ihnen angeboten hat.
– Nein!
– Bitte! Dr. Rudolph hob eine Hand. Sie müssen nicht … Ich erwarte überhaupt nicht, dass Sie voller Enthusiasmus in ein solches Institut kommen.
– Ich unterrichte gerne.
Der Direktor lächelte.
– Sie sind die Zukunft, sagte er.
– Ich?
– Nein, die Kinder hier.
– Oh, natürlich, Entschuldigung –
– Ich verlange keinen Enthusiasmus von meinen Lehrern. Sie interagieren auch weniger miteinander als in normalen Schulen. Das Einzige, was ich verlange, ja im Grunde erwarte, ist, dass Sie sich bewusstmachen, dass diese Kinder die Zukunft darstellen. Sie müssen sich immer wieder fragen: Zu was werden sie wohl heranwachsen?
– Sie meinen, ich muss mich das fragen?
– Ja, Sie, nicht sie. Großes S. Auch, wenn es sich ausbrennt und mit dem Erwachsenwerden verschwindet, was es nicht immer tut, aber doch in einigen Fällen, ist das doch ein Rucksack, den man nicht so leicht ablegen kann. Sie kennen sicher Edison, oder?
– Den Erfinder.
– Ja. Er war ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Hunderte Patente auf seinen Namen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts baute er eine der ersten sprechenden Puppen für Kinder. In den 1880 er Jahren! Es war leider ein sehr schauriges Geschöpf, das mit einem winzigen Wachszylinder in der Brust einige Worte sagen konnte. Und zum Wechseln des Zylinders musste man den Oberkörper der Puppe aufklappen. Also ziemlich gruselig. Nach drei-, viermal Abspielen hat die Qualität der Tonaufnahme so stark abgenommen, dass die Puppe nur noch ein entsetzliches Kreischen von sich gegeben hat, wie weit entferntes Kindergeschrei. Nach wenigen Monaten wurde die Produktion eingestellt, aber das hat ihn nicht demotiviert, wissen Sie? Edison war niemals in seinem Leben demotiviert. Wo normale Menschen diesen kleinen Schalter in sich haben, diesen Keine-Lust-mehr-Schalter, da war bei ihmnichts. Er war furchtlos, ist wirklich vor nichts zurückgeschreckt. 1903 hat er einen Elefanten aus dem Coney-Island-Vergnügungspark, ein Tier namens Topsy, durch Starkstrom umgebracht, um zu beweisen, dass Gleichstrom besser und effizienter war als der Wechselstrom von Tesla. Die Prozedur wurde sogar gefilmt, er hat wirklich an alles gedacht. Den Elefanten umzubringen war nicht weiter verwerflich, da er vom Zoo bereits im Vorfeld zum Tod verurteilt worden war. Der Trainer des Elefanten hat ihm jahrelang brennende Zigaretten zu essen gegeben und ihm … Alles okay?
– Ja, mir ist nur …
Ich atmete einmal tief durch.
– Wir sind in ausreichender Entfernung, Herr Setz. Das sind nur die Nerven. Jedenfalls … Der Elefant hatte einen wirklich brutalen Trainer, der ihn jahrelang misshandelt hat, und dann hat der Elefant ihn eines Tages getötet. Bei der Hinrichtung waren eintausendfünfhundert Menschen zugegen und haben applaudiert, als der Elefant umgefallen ist.
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