irgendwann würde es schon bei seinem Erdloch ankommen, und dann trennte es von seinen Freunden nur noch einige Zentimeter vertrauter Substanz.
In Gedanken marschierte Robert zu dem Wurm und hob ihn auf. Dieser brauchte eine Weile, bis sein Körper bemerkte, dass er keinen festen Boden mehr unter sich hatte. Er hörte auf, sich fortzubewegen, und ringelte sich wieder sinnlos um sich selbst, sein Kopf pendelte hin und her. Die ganze Szene war von so herzzerreißender Sinnlosigkeit, dass Robert lachen musste. Max machte ein erstauntes Geräusch mit dem Mund. Und dann bemerkte Robert, dass der Lehrer hereingekommen war und Platz genommen hatte. Er stieß die Zeitschrift mit der Wurmgeschichte schnell von sich, als hätte sie ihn festgehalten, und das Heft rutschte fast einen Meter weit über den langen, langen Tisch des Biologiekabinetts, an dem sie, in einem gleichseitigen Dreieck angeordnet, saßen.
Prof. Ulrich schaute nicht böse oder verärgert. Im Gegenteil, er griff nach seiner Zeitschrift, drehte sie um, schien den Artikel zu überfliegen und sagte dann:
– Nicht wahr, gell?
Max wirkte in den folgenden Tagen verzweifelt und niedergeschlagen, wahrscheinlich deshalb, weil es keine Strafe für sein Verhalten gegeben hatte, also auch keine Bestätigung, dass jemals etwas passiert war. Es geschah nur noch selten, dass sich ihre Blicke irgendwo trafen.
Bald darauf wurde Max reloziert. Ein Auto mit internationalem Kennzeichen kam und brachte ihn fort. Robert hatte ihn gesehen, als er (mit seinem vom Lehrpersonal oft scherzhaft als Lepraklapper bezeichneten Klicker Lärm machend, proximity awareness ) anseinem Zimmer vorbeigegangen war, und wenig später, als er mit nacktem Oberkörper in der Ecke vor seinem Waschbecken stand, das Gesicht blickte in den Spiegel – und die Hand verteilte eine Art Ruß oder schwarze Schminke darauf. Neben ihm auf einem Stuhl lag ein schwarzes Frackgewand, wie für eine Beerdigung oder ein Klavierkonzert. Auf der Lehne balancierte ein eingedrückter Zylinder. Später hatte Max ihnen zugewinkt, mit seiner rußverschmierten Pfote, aus dem Heckfenster des Autos, in dem kleine Plüschtiere mit Saugnäpfen an der Scheibe klebten. Und der Mathelehrer war am selben Morgen beim Lesen eines Artikels über Bienen, der zufällig von der Biologiestunde im Hörsaal liegengeblieben war, in Tränen ausgebrochen. Freak. Robert sah die Szene noch so klar vor sich, dass die Erinnerung ihm die Faust ballte.
Er suchte die Visitenkarte des Mannes, der ihn im Bankfoyer angesprochen hatte.
[email protected]. Dann zerriss er sie und ging ins Nebenzimmer, um irgendetwas zu finden, das er kaputtmachen und wieder reparieren konnte, bevor Cordula nach Hause kam.
7 Romeo und Julia
im Institut
Es gebe natürlich schon einige, na ja, wie soll man sagen, äh, Romeo-und-Julia-Tendenzen unter den Schülern, so Dr. Rudolph, das sei auch ganz normal und erwartbar, wenn die Hormone einen entsprechenden Wert in den Individuen erreichten. Und gerade jetzt, wo es langsam wieder Sommer werde, sei die Luft zudem auf diese außergewöhnliche Weise gesättigt mit Stoffen, die einem die Anwesenheit des eigenen Körpers quasi den ganzen Tag unter die Nase reiben. Pollen, Blumen und Gräser, die Hitze selbst, die Schweiß und Verunreinigung der Poren und eine Überallverbreitung des Eigengeruchs mit sich bringe. Es sei absolut normal, dass sich gerade in dieser Zeit oft besonders intensive Empfindungen in den jungen Menschen herausbildeten. Man müsse als Erzieher dieser Umstände immer gewärtig sein, ihnen gewissermaßen mit ruhigem Auge entgegenblicken, denn die Natur habe vorgesorgt, im wahrsten Sinn des Wortes. Ja, sogar eine Allergie, wie sie viele der Institutskinder in diesen Monaten befalle, sei die ständige Erinnerung daran, dass man einen Körper besitze, der, unwillkürlich und ohne sich um die Wünsche und den Willen seines Besitzers zu kümmern, auf seine Umwelt reagiere, mit ihr in Interaktion trete, Moleküle aufnehme und diese dann falsch interpretiere, ja, so eine Allergie sei eigentlich ein sehr einprägsames Sinnbild für all die anderen unangenehmen Folgen, die so ein Sommer auf das Leben in jener Alters- und Entwicklungsstufe habe. Und dazu kämen natürlich noch die Proximitätsproblematik und das individuell unterschiedliche Zonenverhalten, was sehr häufig zu enormen nervlichen Belastungen der Kinder führe, so Dr. Rudolph. Besonders sei ihm noch der Fall von Felix und Max im Gedächtnis,