Indigosommer
spüren, die unter der Oberfläche des Meeres ist, diese unsichtbare Macht. Und dann sind sie ganz plötzlich da, die Wellen mit den weißen Schaumkämmen. Der Junge auf dem Surfbrett scheint mittlerweile zu begreifen, dass er in Gefahr ist. Und er macht denselben Fehler, den fast alle in dieser Situation begehen: Er versucht, gegen die Strömung anzuschwimmen, um von den Klippen wegzukommen.
Conrads erster Impuls ist, ins kalte Wasser zu springen und den Jungen da rauszuholen. Doch plötzlich überkommt ihn eine seltsame Ruhe. Sein Blick wandert hinüber zum First Beach. Es ist Mittagszeit. Der Strand ist leer, niemand zu sehen. Kein Boot ist auf dem Wasser. Schlagartig wird Conrad bewusst: Das ist der Moment, auf den er gewartet hat. Alles passt. Er muss nichts tun, nur zusehen.
Das Meer kann eine Wasserleiche auf eine weite Reise schicken. Sie hatten nach Justin gesucht damals, mehrere Tage lang. Schließlich war Conrad erleichtert gewesen, dass man sei nen Bruder nicht gefunden hatte, denn es wäre nicht mehr viel von ihm übrig gewesen.
Die wild paddelnde Gestalt auf dem Brett ist höchstens noch dreißig Meter von ihm entfernt. Eine Welle schwappt über dem Kopf des Jungen zusammen und das Meer schluckt ihn.
Ungerührt sieht Conrad zu.
Ein Leben für das seines Bruders. Eine angemessene Gegengabe. Conrad starrt auf das Brett im Wasser, das auf den Wellen trudelt wie ein Kartoffelchip. Die Fangleine muss gerissen sein.
Er weiß sehr gut, wie es dort unten ist, wenn man die Orientierung verliert. Einmal hat ihn ein Brecher vom Brett gerissen und er ist im Inneren der Welle umhergewirbelt, ohne zu wissen, wo oben oder unten war. Er hat sein Brett vor den Kopf bekommen und das ungeheure Gewicht der Wellen hat ihn nach unten auf den Sandboden gepresst.
Conrad wäre ertrunken, hätte Justin ihn nicht gefunden und herausgeholt. Sein Bruder hat ihm das Leben gerettet, aber er hat das Gleiche nicht für ihn tun können. Vor Conrads Augen hat das Meer Justin verschlungen.
Plötzlich schreckt Conrad aus seiner Erstarrung. Was ist da im Wasser? Sein Blick fokussiert den glänzenden schwarzen Kopf, der aus dem Wasser taucht. Die einsame Robbe. Sie schwimmt dort, wo das Brett des Jungen auf den Wellen tanzt und stößt Robbenschreie aus. Sie klingen wie Hilferufe. Die Robbe taucht und kommt wieder hoch. Ihre Rufe werden eindringlicher. Conrad steht da, wie betäubt, reglos, eine erbarmungslose Leere in seinem Inneren. Er hat den Namen seines Bruders auf den Lippen, aber er spricht ihn nicht aus.
Keine Spur mehr von dem Jungen. Das Meer hat ihn in die Tiefe gezogen, unwiederbringlich. Für einen kurzen Augenblick fühlt Conrad unendliche Genugtuung und einen seltsamen, kalten Frieden im Kopf.
Doch dann schießt der Kopf des Jungen wieder aus dem Wasser. Conrad hört den keuchenden Atem, den Hilfeschrei, sieht den Jungen panisch um sich schlagen und dann ist da nur noch ein in die Höhe gereckter Arm, der hilflos ins Leere greift.
Und verschwindet.
Conrad spürt ein leises Beben tief in seinem Inneren. In seinem Kopf ist immer noch diese Leere, doch sein Körper, der handelt auf einmal wie von selbst. In Sekundenschnelle ist er aus seinen Kleidern. Er springt, er schwimmt in kräftigen Zügen und taucht. Das Wasser ist aufgewühlt und er bezweifelt, dass er den Jungen finden wird. Doch er muss es versuchen. Instinktiv weiß er, dass das seine letzte Chance ist, sich aus Justins Schatten zu befreien.
Conrad muss nach oben, um Luft zu holen. Er sieht den dunklen Robbenkopf auf der Wasseroberfläche und schwimmt auf ihn zu. Für einen Augenblick glaubt er, Tränen in den schwarzen Robbenaugen zu sehen. Sein Taxilit, sein Schutzgeist ist eine Robbe. Er wird ihm helfen, ob Tier oder Geist.
Conrad taucht abermals, reißt die Augen auf, sucht und entdeckt einen Schatten. Die Robbe, sie führt ihn.
Die Kehle wird ihm eng, Bilder seines Albtraums steigen in ihm auf, er spürt, wie Panik ihn erfasst. Die Luft wird ihm knapp, aber wenn er jetzt noch einmal auftaucht, wird er den Jungen niemals finden. Weiter! Noch ein kräftiger Stoß. Endlich sieht er den Jungen, packt zu und zerrt ihn nach oben. Mit einem wütenden Schrei durchbricht er die Oberfläche. Haare und Wassertropfen fliegen und er nimmt einen wilden Atemzug.
Die Lippen des leblosen Jungen in Conrads Armen sind blau, seine Augen geschlossen. Er schwimmt mit ihm zum Surfbrett, schwingt sich auf das Brett, hält den Kopf des Jungen über Wasser und lässt sich
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