Indigosommer
habe, das einer wie ich nicht zu sehen bekommen sollte?«
Die Verachtung in seiner dunklen Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, drehte mich um und sah ihn an. Nasse pechschwarze Haarsträhnen fielen ihm über die dunklen Schultern wie Seetang. Seine wie liegende Halbmonde geformten Augen waren dunkel, winzige goldene Lichtreflexe leuchteten darin auf. Eine helle Narbe zog sich schräg durch seine linke Augenbraue, eine dünne weiße Linie, die die schwarz glänzenden Härchen teilte und sich auf dem Jochbein noch zwei Zentimeter fortsetzte. Seine Lippen zeichneten einen Bogen nach unten, was ihn missmutig oder wütend aussehen ließ – oder beides.
Zum ersten Mal war ich seinem Gesicht so nah und konnte unter der Maske der Ablehnung seine unbändige Einsamkeit erkennen. Mein Retter war ein schöner, ein wütender junger Mann und ich wusste, er würde mir nichts tun.
Der Indianer wandte den Kopf in Richtung Meer und schleuderte kleine Steine ins seichte Wasser.
»Ich heiße Smilla«, waren meine ersten, halb erstickten Worte. »Danke, dass du... dass du mich da rausgeholt hast.« Ich bekam einen Schluckauf.
»War verdammt knapp«, sagte er, ohne mich anzusehen. »Ich verstehe nicht, wie du so dumm sein konntest, mit diesem blöden Brett da rauszuschwimmen.« Er riskierte einen Blick aus den Augenwinkeln. Meiner eigenen Blässe unter dem nassen Wetsuit schmerzhaft bewusst, presste ich die Knie vor meine Brust und schlang die Arme darum.
»Das war dämlich, ich weiß.« Ich schniefte und hickste. »Aber endlich waren mal alle weg und ich...ich wollte ein einziges Mal allein auf dem Wasser sein. Es war so schön da draußen, bis... hicks . . .« Dieser verflixte Schluckauf.
»Bis das Meer dir gezeigt hat, dass du ein Nichts bist«, fiel er mir ins Wort. Er nahm einen weiteren Stein und schleuderte ihn ins Wasser. Ich konzentrierte mich auf das Spiel seiner Muskeln unter der glatten Haut und schon juckte es in meinen Fingerkuppen. »Ihr Weißen denkt, ihr könnt alles, sogar den Ozean bezwingen«, sagte er. »Aber man kann ihn nicht bezwingen und auch nicht besitzen. Man kann nur darin versinken.«
Den letzten Satz sagte er mit so großer Traurigkeit, dass ich lieber schwieg, anstatt etwas zu erwidern. Was auch immer ihn quälte, er würde nichts von sich preisgeben, schon gar nicht vor jemandem wie mir. Für ihn gehörte ich zur Surferclique und offensichtlich fand er Surfer schwachsinnig. Er sah nichts anderes in mir als einen dieser verwöhnten weißen Teenager, die von Daddy alles bekommen konnten. Wie sollte er auch wissen...ach Mist, er täuschte sich gewaltig.
»Ich wollte den Ozean nicht bezwingen«, sagte ich, »ich wollte . . .«, meine Stimme brach und die Tränen flossen erneut. Erst als ich bemerkte, wie der Indianer mich verständnislos anstarrte, wurde mir bewusst, dass ich in meiner Muttersprache geredet und er kein Wort verstanden hatte.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich bin ziemlich durcheinander.« Ich wiederholte auf Englisch, was ich zu sagen versucht hatte. »Ich wollte wissen, wie der Ozean sich anfühlt, wenn man weiter draußen ist.«
Auf einmal war Neugier in seinem Blick. Ich spürte sein erwachendes Interesse. »Was war das für eine Sprache?«
»Das war Deutsch.«
»Du bist Deutsche?
»Halb Deutsche, halb Dänin, aber ich lebe in Deutschland.«
»Und was machst du dann hier?«
»Ich bin Austauschschülerin. Ab September werde ich für ein Jahr in Seattle zur Schule gehen.«
»Wie alt bist du?« Prüfend sah er mich an.
»Sechzehn.«
»Machst du Witze?«
»Nein.« Ich schniefte ärgerlich. An seinem Blick sah ich, dass er nicht wusste, ob er mir glauben sollte oder nicht. Ich konnte es ihm nicht verübeln, ich sah nicht einmal wie fünfzehn aus. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich, um von dem leidigen Thema wegzukommen. Ich sah ihn an, aber er wich meinem Blick aus und wandte sich wieder dem Meer zu, das offensichtlich doch interessanter für ihn war als ich.
»Conrad«, sagte er.
Conrad.
Verstohlen betrachtete ich ihn von der Seite, seinen knochigen dunklen Körper. Ich wusste, dass er viel stärker war, als er aussah, doch seine Muskeln traten nur hervor, wenn er sich bewegte.
Der Wunsch, seine braune Haut zu berühren, war stark. Diese Bräune kam nicht nur von der Sonne, sie schien tief unter der Haut zu beginnen. Auf Conrads rechtem Handrücken waren Tätowierungen, eine Linie kleiner Kreuze in verwaschenem
Weitere Kostenlose Bücher