Indigosommer
zusieht. Inzwischen hatte ich schmerzlich erfahren, dass die geheiligten Surferregeln durchaus einen Sinn hatten, und ich nahm mir vor, sie in Zukunft einzuhalten.
Zu später Stunde waren dann alle leicht angetrunken und bekifft – oder beides. Die drei Pärchen aus Portland saßen eng umschlungen beieinander. Brandee knabberte mit ihren kleinen weißen Zähnen an Alecs Ohr und er drehte sein Gesicht zu ihr, um sie zu küssen. Mark saß neben Janice und hatte den Arm um sie gelegt. Es war ihr anzusehen, wie glücklich sie war.
Ich wollte auch umarmt und geküsst werden, ich wusste nur nicht, von wem. Conrad, mein eingeborener Retter, schlich sich immer wieder in meinen Kopf. Ich fühlte mich auf verwirrende Weise zu ihm hingezogen und das war typisch für mich. Smilla, die hoffnungslose Romantikerin.
Josh, der zwischen Alec und Laura saß, hatte schon ein paarmal zu mir herübergesehen und mir sogar einmal zugezwinkert. Aber vielleicht hatte er ja auch bloß Asche ins Auge bekommen. Ich wusste, dass er mich mochte und gewiss nichts dagegen hatte, mich zu küssen, aber im Augenblick war er mit seinem nächsten Joint beschäftigt. Er verteilte Tabak und geschnittenes Marihuana auf einem Streifen Zigarettenpapier, rollte ihn zusammen, fuhr mit der Zunge über den Rand und bog das Ende um. Er zündete den Joint an, nahm einen Zug und inhalierte tief. Dann reichte er ihn an Alec weiter.
Meine Gedanken wanderten von Josh wieder zurück zu meinem Retter. Ich glaubte an so etwas wie Schicksal. Conrad war da gewesen, um mich aus dem Meer zu ziehen. Ich trug immer noch sein T-Shirt, das ein bisschen nach seinem Schweiß und nach Seetang roch. Mir kam dieser indianische Spruch in den Sinn, dass man einen Menschen nicht beurteilen sollte, bevor man ein paar Meilen in seinen Mokassins gelaufen war. Ich trug zwar nicht Conrads Mokassins, dafür aber sein T-Shirt. Und so schnell würde ich es auch nicht wieder ausziehen.
In der Nacht drang das Meer in meinen Schlaf und mein Traum war angefüllt mit dunklem, salzigem Wasser. Ich trieb in schwachem graugrünem Licht und schwarze Schlangen wanden sich um meine Arme und Beine, um mich in eine bodenlose Tiefe zu ziehen. Ich sah den weißen Spiegel des Lichts über mir, aber als ich versuchte, ihn zu erreichen, zerbrach er in tausend Wasserscherben.
Mit einem panischen Keuchen, halb Atemzug, halb Schrei, schreckte ich aus dem Schlaf. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich, dass Janice nicht mehr neben mir lag. Von irgendwoher hörte ich das Heulen eines einsamen Wolfs. Ein Wolf? Du spinnst, Smilla. Hier gibt es keine Wölfe. Genauso wenig wie es Haie gibt. Oder Werwölfe. Oder Vampire. Oder doch?
Ich drehte mich auf die andere Seite, rollte mich zusammen und versuchte, wieder einzuschlafen.
Fucking American Weekend, denkt Conrad, während er die Truppe am Feuer beobachtet. Noch mehr Surfer sind angekommen. Auf dem Platz am »Lonesome Creek Store« stehen sieben neue Campingmobile. Im »Whale Motel« brennt in fast allen Zimmern Licht. Die billigen Hütten im »Ocean Park Resort« sind ausgebucht. Großfamilien sitzen auf den winzigen Veranden und grillen. Nur die teuren Strandhäuser sind bis auf zwei unbewohnt.
Conrad sieht, wie Alec und die Schaufensterpuppe sich küssen. Josh, der Mörder, sitzt neben der Rothaarigen mit den Korkenzieherlocken. Der Supersurfer hat die Blonde in der Mache. Nur Smilla, das Mädchen mit den Meeresaugen, ist übrig. Er kann ihr Gesicht sehen. Die geraden dunklen Augenbrauen, die kleine Nase, der sinnliche Mund. Wie hat er sie bloß für einen Jungen halten können?
Vermutlich lag es an ihren schmalen Hüften, der knabenhaften Figur. Smilla ist klein, aber es ist alles dran an ihr, das kann er nicht leugnen. Den ganzen Nachmittag hat Conrad sich große Mühe gegeben, Smilla aus seinem Kopf zu verdrängen. Es ist ihm nicht gelungen. Er fragt sich, ob sie mit ihren zweifarbigen Augen geradewegs in sein Innerstes schauen kann, um seine Gedanken zu lesen.
Ausnahmsweise wird Conrad von etwas anderem beherrscht als seiner Wut. Es ist Smillas blaugrüner Blick. Und ihre schimmernden Perlmuttbrüste kann er auch nicht vergessen.
Er hat dieses Mädchen aus dem Meer gefischt, also gehört es ihm. So sagt es das Gesetz dieses Strandes. Der Gedanke verwirrt ihn. Was soll er mit einem weißen Mädchen, das Haare und Hüften hat wie ein Junge und verkehrt herum in einem Neoprenanzug steckt?
Ein Lächeln steigt aus ihm auf, aus
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