Indigosommer
schmalen Pfad durch hohe Brennnesseln.
»Dann waren also nicht alle gleich in deinem Volk?«
»Nein, früher nicht. Die Mächtigsten waren die Häuptlinge, die Niedrigsten die Sklaven. Die Übrigen bildeten das einfache Volk. Früher haben wir große Potlachs gefeiert, Schenkungsfeste. Bei uns wurde Reichtum nicht an dem gemessen, was einer hatte, sondern was er weggegeben hatte. For all you can hold in your cold dead hand, is what you have given away , hat mein Großvater Akil immer gesagt.«
Conrad erzählte von der alten Ordnung seiner Vorfahren, die in einigen Dingen heute noch gültig war. Während ich seiner tiefen Stimme lauschte, fühlte ich mich immer mehr zu ihm hingezogen. Und selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte nichts dagegen tun.
Conrad hatte mich mit auf die Insel genommen, doch was waren seine Gründe dafür? Warum gibt er sich überhaupt mit dir ab?, fragte ich mich. Spielte er nur ein Spiel mit mir? Aber danach fühlte es sich überhaupt nicht an.
Der Nebel hatte sich endgültig verflüchtigt und die Sonne brannte heiß auf uns herab. Schon nach ein paar Schritten waren wir im Inneren der Insel. Conrad zeigte mir die alten, knorrigen Apfelbäume, die die Quileute vor hundert Jahren gepflanzt hatten, und eine Quelle, die in einer Felsspalte entsprang.
»Vor ein paar Jahren waren Archäologen hier oben«, sagte er, »sie haben Reste einer alten Seilbahn entdeckt.«
»Ich kann es mir trotzdem nicht so richtig vorstellen, wie sie über längere Zeit hier oben ausgehalten haben, deine Vorfahren.«
»Es war alles da, was sie brauchten«, sagte Conrad. »Wasser, Obst, sogar Kartoffeln haben sie angebaut.«
Er zeigte mir das Nebelhorn, das die Küstenwache auf der Insel installiert hatte, damit es bei dichtem Nebel die Schiffe warnen konnte. Es gab auch eine rote Signallampe, die sicherstellen sollte, dass Schiffe bei Nacht oder bei Nebel unbeschadet in den Hafen gelangen konnten.
»Sei froh, dass die Sonne jetzt scheint. Das Nebelhorn ist so laut, dass du taub wirst, wenn du hier oben stehst.«
Oh ja, ich war froh. Froh, hier zu sein – mit ihm.
Fragend zeigte ich auf ein riesiges Nest in einem windschiefen Baum.
»Weißkopfseeadler«, erklärte Conrad. »Sie haben drei Junge. Vermutlich sind sie gerade auf der Jagd.« Wir liefen zur anderen Seite der Insel, die wie ein Hufeisen geformt war. Auf der zum Meer gewandten Seite gab es eine enge Bucht. Weißer Schaum spritzte meterhoch, wenn die Brecher auf die steilen Felswände trafen.
Plötzlich zog sich mein Magen zusammen. Die Flut, schoss es mir durch den Kopf. Sie würde um die Mittagszeit ihren höchsten Stand erreichen. Ich wusste das, weil Alec jeden Morgen bekannt gab, wann gute Wellen zu erwarten waren, und meistens fiel das mit dem höchsten Stand der Flut zusammen.
Im Eiltempo lief ich den Pfad zurück.
»Was ist denn los?«, rief Conrad hinter mir her.
Erst auf der Plattform holte er mich wieder ein. Unter uns begann die schmale Verbindung zwischen der Insel und dem Festland im Meer zu verschwinden. Ganz in der Ferne konnte ich unsere Zelte sehen und die Surfbretter, die in der Sonne blinkten. Wenn ich schnell war, würde ich es vielleicht noch schaffen. Aber ich war nicht schnell, da machte ich mir nichts vor. Für den Abstieg würde ich mindestens eine halbe Stunde brauchen und ohne Conrads Hilfe würde ich da nie hinunterkommen.
»Die Flut«, sagte ich und spürte den Kloß in meinem Hals. Dann sah ich Conrad an. Hatte er das etwa geplant? Und wenn ja, wieso? »Warum tust du das?«, fragte ich. »Mich hier festhalten.«
»Ich halte dich nicht fest.«
»Aber du hast gewusst, dass die Flut kommen würde.« Ich war völlig aufgelöst. Die anderen würden mich vermissen und sich Sorgen um mich machen – und das war gar nicht gut. Die Wogen hatten sich gerade geglättet und ich hatte keine Lust, Alec neuen Anlass zu geben, mir Vorhaltungen zu machen.
»Was ist so schlimm daran?«, fragte Conrad und sah mich herausfordernd an. »In fünf Stunden ist wieder Ebbe.«
Fünf Stunden? »Schlimm ist, dass ich meinen Freunden nicht sagen kann, wo ich bin. Sie werden die Polizei rufen.«
Conrad lachte, als hätte ich einen Scherz gemacht. »Na ja. Mein Vater wird dich bestimmt finden. Wenn jemand vermisst wird in La Push, sieht er immer zuerst hier oben nach.«
»Gibt es keinen anderen Weg?«, fragte ich.
»Doch. Du kannst schwimmen.«
Ich funkelte ihn an, aber er schien es ernst gemeint zu haben.
»Fünf Stunden?«, fragte
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