Indigosommer
hinaus. »Bis morgen, okay?«
Am nächsten Morgen stellte ich fest, dass es, abgesehen vom Brandungsrauschen, still war. Der Regen hatte aufgehört. Erleichtert krabbelte ich aus dem Zelt und stutzte. Wow. Die Welt um mich herum war verschwunden. Ich konnte das Zelt sehen und meine Füße, sonst nichts. Alles war in dicken, scheinbar undurchdringlichen Nebel gehüllt. Ein bisschen kam es mir so vor, als wäre ich im Winter aufgewacht.
Ich ging ein paar Schritte und stolperte über einen Treibholz-stamm. So knochengrau, wie er war, hatte ich ihn gar nicht wahrgenommen. Ich konnte den Sturz gerade noch abfangen und tastete mich weiter, fasziniert, orientierungslos. Der Nebel schluckte nicht nur die Farben, sondern auch die Geräusche. Und meinen Gleichgewichtssinn. Wo war oben und wo unten? Ich bewegte mich in einer grauen Welt ohne Schatten.
Obwohl mir bewusst war, wie leicht ich mich verirren konnte, suchte ich das Meer. Es zu finden, war nicht so einfach, obwohl es kaum mehr als zwanzig Meter entfernt sein konnte. Der Nebel schmeckte salzig und verschluckte das Geräusch meiner Schritte auf den Steinen. Dann der Sand unter meinen Füßen und gar kein Laut mehr. Das Meer war ein stiller, ein mattgrauer Streifen.
Plötzlich ertönte ein Nebelhorn, dumpf und geisterhaft. Ich zuckte erschrocken zusammen. Der dunkle Ton vibrierte in meinem Magen. Wo kam er her? Von James Island, vermutete ich.
Nur, weil ich inzwischen jeden Treibholzstamm und jede Wurzel in der Umgebung des Camps persönlich kannte, fand ich wieder zurück. Meine Hände waren feucht, die Haare, meine Sachen. Alles klamm.
Die anderen schliefen bis zehn, sogar Mark, und dann wurde ausgiebig gefrühstückt. Noch wollte der Nebel nicht weichen. Der Rauch unseres Feuers mischte sich mit den grauen Schwa den, alles war nass vom Regen. Die Feuchtigkeit legte sich auf Haare und Haut. Lauras Korkenzieherlöckchen kringelten sich wie wild und die anderen zogen sie damit auf.
Als der Nebel endlich begann, sich in Schwaden zu lichten, brach ich mit meiner Kamera zu einem Strandspaziergang auf.
»He«, rief Josh mir hinterher, »was willst du in diesem Nebel fotografieren? Man sieht ja nicht mal die eigene Hand vor Augen.«
Ich drehte mich um, lächelte und sagte: »Geister vielleicht.«
»Soll ich mitkommen und dich beschützen?«
Nein, dachte ich, sollst du nicht. Auch wenn ich Conrad nicht haben konnte, war ich mir inzwischen sicher, dass ich kein Interesse daran hatte, etwas mit Josh anzufangen. Er war amüsant und sah gut aus, aber er berührte mein Inneres nicht. Mein Herz wusste nichts mit ihm anzufangen. Trotzdem versuchte ich, mich ihm gegenüber nicht abweisend zu verhalten, denn das wäre nicht fair gewesen.
»Lieber nicht«, sagte ich betont fröhlich, »du verschreckst sie vielleicht.«
»Na dann viel Glück«, sagte Josh und ich hörte die leise Enttäuschung in seiner Stimme. »Aber heute Abend will ich sie sehen, deine Geister.«
»Na klar«, sagte ich. Ich winkte den anderen zu und verschwand zwischen den Treibholzstämmen.
Kein Mensch begegnete mir am Strand und ich spürte einmal mehr, wie sehr ich es liebte, mit den Baumriesen und den Möwen allein zu sein. Die Sonne war jetzt eine pulsierende blasse Scheibe am Himmel und die Nebelbänke begannen, sich in geisterhaften Formationen aufzulösen. Schließlich war ich am Ende des Strandes angekommen, dort wo der Fluss ins Meer mündete. Hier hatten Stürme einen riesigen Haufen Treibholz aufgetürmt und ich entdeckte eine Stelle, an der jemand versucht hatte, sich eine Behausung zu bauen. Neugierig ging ich in die Knie, um in die Höhlung zu spähen.
Plötzlich hörte ich in meinem Rücken ein böses Knurren. Erschrocken fuhr ich herum und sah mich gesträubtem Fell und gefletschten gelben Zähnen gegenüber, nur ungefähr zwei Meter von mir entfernt. »Boone«, entfuhr es mir. »Ich bin’s doch bloß, Smilla.«
Aber der Wolfshund reagierte nicht auf seinen Namen. Stattdessen wurde sein Knurren lauter, er legte die Ohren an und begann, wütend zu bellen. Geifer flog von seinen Lefzen. Meine Nackenmuskeln versteiften sich. Als das Tier näher kam, fiel ich auf den Hintern. Und als der Halbwolf auf mich losging, tat ich reflexartig mehrere Dinge auf einmal: Ich schloss die Augen, schrie los, versuchte, mit den Händen mein Gesicht zu schützen, und rutschte rücklings in die Treibholzhöhle.
Keine Ahnung, was ich erwartete: Zähne, die sich in mein Fleisch bohrten? Schmerz? Doch
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