Indigosommer
ich zweifelnd.
Er hob die Schultern, als wäre er verantwortlich für den Rhythmus von Ebbe und Flut.
»Ich werde verhungern.«
Conrad schüttelte den Kopf. »Wirst du nicht. Komm mit.«
14. Kapitel
W ir liefen zurück ins Inselinnere. Dort gab es eine alte Feuerstelle mit einem Karree aus halben Baumstämmen, auf denen man sitzen konnte. Conrad säuberte das Feuerloch. Er holte Asche und verkohlte Holzstücke mit den Händen aus der Vertiefung und ich sah, dass ganz unten in der Feuergrube glatte Steine lagen.
Conrad suchte nach trockenen Zweigen, schichtete das Holz zeltförmig auf die Steine und mithilfe von trockenem Gras und dürren Tannenzweigen entfachte er das Feuer. Nicht etwa mit einem Stock, sondern mit einem Feuerzeug.
»Wenn es herunterbrennt, leg ein paar Äste nach«, sagte er und schlug den Weg zur Bucht auf der anderen Seite der Insel ein.
»He, wo gehst du hin?«, rief ich. »Was hast du vor?«
»Hände waschen«, sagte er und hielt seine schwarzen Hände in die Höhe wie ein kleiner Junge.
Nach einer Weile kam Conrad mit einer großen Blechbüchse voll blauschwarzer Miesmuscheln zurück, die in Salzwasser und grünen Kräutern schwammen. Irgendwie musste er unten gewesen sein, am Wasser. Vermutlich gab es auch auf der anderen Seite der Insel eine Leiter.
Mit einem Stock schob er ein paar größere Äste, die noch nicht durchgebrannt waren, zur Seite und stellte die Blechdose auf die Steine mitten ins Feuer. So einfach war das: ein Feuer, eine alte Blechdose, Muscheln, ein paar frische Kräuter und Salzwasser. Ob ich von den Muscheln auch essen würde, wusste ich allerdings noch nicht.
So sauer ich eben noch gewesen war, so glücklich war ich jetzt. Vehement verdrängte ich die letzten Gedanken an Alec und die anderen. Fünf Stunden mit Conrad auf einer einsamen Insel – war das nicht die Erfüllung meiner geheimsten Wünsche? Nur er und ich, niemand sonst. Ich spürte ein leichtes Flattern in meinem Magen.
»Immer noch böse?«, fragte er.
»Nein. Aber mir wäre wohler, wenn die anderen wüssten, wo ich bin.«
»Ich glaube, das würde ihnen nicht gefallen«, meinte er.
Stimmt, dachte ich. Vielleicht ist es wirklich besser, sie wissen nicht, wo ich bin und mit wem ich hier bin.
Ein großer schwarzer Rabe flog mit aufgeregtem Krächzen über uns hinweg, setzte sich in den Ast eines Baumes und beobachtete uns mit seinen schwarz glänzenden Augen.
»Er hat auch Hunger«, sagte Conrad. Bis jetzt war er mit unserem Essen beschäftigt gewesen, aber nun hatte er nichts weiter zu tun, als hin und wieder einen Ast ins Feuer zu legen. Nach einer Weile begann das Wasser in der Blechdose zu kochen.
Wie gerne hätte ich jetzt Fotos gemacht. Doch Großvater Tormar hatte mir gesagt, dass es Momente gibt, die man nicht mit der Kamera zerstören darf. Und das war so ein Moment: Conrad und ich auf A-Ka-Lat, eingeschlossen von der Flut. Das Feuer, die alte Blechdose, in der die Muscheln im Salzwasser garten. Der Rabe mit seinem blauschwarzen Gefieder. Conrads dunkle Hände, die heute meine Hände gehalten hatten.
Das, dachte ich, ist mit nichts zu vergleichen.
Hier oben auf der Insel kam ich mir vor wie auf dem Dach der Welt. Deutschland, meine Eltern und mein Leben dort waren so weit weg, genau wie Alec, Josh, Brandee und die anderen. Kaum zu glauben, wie unwichtig der Rest der Welt plötzlich sein konnte. Ich stellte mir vor, Conrad und ich wären ein Lie bespaar. Das war ein klarer Fall von Tagträumerei, doch für einen wunderbaren Augenblick fühlte es sich sehr echt an.
»Und, wie ist Deutschland so?«, fragte Conrad in die Stille hinein.
Entgeistert sah ich ihn an. Es war, als hätte jemand einen Eimer kaltes Wasser über meinem Kopf ausgeschüttet. »Willst du das wirklich wissen?«
»Nein, eigentlich möchte ich etwas über dich wissen.«
»Was denn?«
»Na, zum Beispiel deinen Nachnamen. Meinen kennst du ja schon.« Er lächelte verlegen.
»Rabe«, sagte ich. »Wie der da.« Ich zeigte auf den Raben, der immer noch geduldig wartend auf seinem Ast saß.
»Raven?«, vergewisserte sich Conrad stirnrunzelnd.
»Ja. Smilla Raven.« Mein englischer Name gefiel mir. Er klang sogar ein wenig geheimnisvoll.
Conrad fragte mich, wo mein Name herkam. Sein Interesse schien aufrichtig zu sein, also begann ich zu erzählen. Von meiner Mutter, die auf den Färöer Inseln aufgewachsen war. Von meinem Vater, der dort Urlaub gemacht hatte, um eine Trennung zu verschmerzen. Und wie sie sich am
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