Indische Naechte
konnte, falls sie ihn noch erreichte. Sie hatte einmal von einem erfahrenen Jäger gehört, daß ein Tiger, wenn er den ersten Sprung verpatzt hatte, sich nur langsam wieder erholte, um es ein zweites Mal zu versuchen. Seine Beute konnte dann erstaunlich oft entkommen. Doch der Jäger hatte von Tigern gesprochen, die leichtfüßige Rehe jagten, nicht von einer Frau, die ein ängstliches, strampelndes Kind schleppen mußte.
Hinter ihr schwoll das Knurren des Tigers zu einem bösartigen Grollen an, aber sie wagte nicht, einen Blick zurück zu werfen. Der Baumstamm war nur noch zwei lange Sätze entfernt. Wenn sie ihn erreichen konnte...
Bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, traf sie ein gewaltiger Schlag, der sie zu Boden stieß. Sie landete hart auf ihrem Rücken, Narwa immer noch fest in den Armen, und starrte in das entsetzliche Antlitz des Tigers. Sein Brüllen ließ ihr das Blut gefrieren, und er enthüllte direkt vor ihrem Gesicht seine dolchlangen Zähne, die einen Büffel reißen konnten.
Tiger rissen gewöhnlich mit den Fängen, statt mit den Klauen, doch die gewaltige Pranke, die nun auf Laura zuschwang, wirkte tödlich genug, um mit einem Schlag sie und das Kind zu zermalmen. Sie rollte sich mit Narwa herum. Wenn sie oben lag, wenn der Tiger zuschlug, konnte sie vielleicht wenigstens den Jungen schützen. Laura wurde bewußt, daß sie in einer Minute tot sein würde. Es war bizarr. So hatte sie sich ihr Ende nicht vorgestellt. Vielleicht sollte sie sich über den Zustand ihrer Seele Gedanken machen, aber ihr letzter Gedanke war die Hoffnung, daß Papa auf sie wartete, und Tatjana...
Das Krachen eines Gewehrs zerriß die Luft, Sekunden später ein zweiter Schuß. Der Tiger brüllte wieder, doch dieses Mal vor Schmerz. Laura blickte sich um und sah den Tiger sich in die Luft erheben. Einen Augenblick verdunkelte die gewaltige Masse die Sonne. Der Tiger wand sich und schlug hilflos mit den Vorderpfoten ins Leere. Dann brach er mit einem markerschütternden letzten Aufbrüllen zusammen.
Bevor eine der zuckenden, tödlichen Tatzen Laura oder das Kind treffen konnte, hatte Kunthi sie erreicht. Sie war eine kleine Frau, aber mit übermenschlichen Kräften packte sie Laura unter den Armen und zerrte sie aus der Reichweite des Tigers. Dann zog sie Narwa in ihre Arme und wiegte ihn weinend hin und her, während das Kind empört zappelte.
Zu betäubt und atemlos, um sich zu bewegen, lag Laura immer noch auf dem Boden zwischen Narwas zerdrückten Blumen, als Ian heraneilte. Er fiel neben ihr auf die Knie. »Laura, sind Sie verletzt?« Seine Stimme klang fast panisch. Er legte das Gewehr ab, dann zog er sie sanft in eine sitzende Position und legte ihr einen Arm um die Schultern.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie. Es fiel ihr schwer, genug Atem zu finden, um zu sprechen. ».Eine Pranke hat mich in der Seite getroffen.«
Nachdem er sie untersucht hatte, sagte er leise: »Sie hatten unglaubliches Glück. Die Feldflasche hat das meiste des Schlags abgefangen. Sie ist abgerissen und liegt dort beim Tiger. Guter Gott, die Krallen haben Ihr Kleid zerfetzt. Ich sehe aber kein Blut. Tut Ihnen irgend etwas weh?«
Laura machte versuchsweise Inventur. Ihre Rippen schmerzten, aber die Feldflasche hatte sie wohl wirklich vor dem Schlimmsten bewahrt. »Nur Prellungen glaube ich.« Sie lächelte unsicher. »Papa hat mir die Flasche geschenkt. Er sagte damals, sie könnte mir das Leben retten, aber ich glaube nicht, daß er sich das so vorgestellt hatte.«
»Vielleicht hat er heute morgen über Sie gewacht.« Ian schüttelte den Kopf. »Als der Tiger Sie von den Füßen riß, dachte ich, es wäre aus mit Ihnen. Wenn er richtig getroffen hätte...«
Inzwischen war das halbe Dorf herangekommen, und alle redeten aufgeregt durcheinander. Einer der letzten, der heraneilte, war Narwas Vater. Totenbleich drängelte er sich durch die Menge und umarmte seine Frau und sein Kind. Etwas ruhiger untersuchte Punwa den toten Tiger. Mit einem Aufblicken sagte er: »Guter Schuß, Cameron Sahib. Beide Kugeln durch das Herz.«
Mit Ians Hilfe schaffte es Laura, auf die Füße zu kommen. Sie starrte auf den Tiger und schauderte. Das Tier war gewaltig, von der Nase bis zur Schwanzspitze gut zehn Fuß lang. Wenn er nur einen Hauch schneller gewesen wäre, gäbe es sie nicht mehr. Und Narwa wohl auch nicht.
Sie begann zu zittern, und Ians Arm legte sich um ihre Taille. Trotz der Hitze der Sonne war ihr kalt, und sie war dankbar für die
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