Indische Naechte
abschirmte und in die Ferne blinzelte. »Da kommt Punwa und will wissen, ob wir Glück gehabt haben. Könnten Sie einen Augenblick hier warten? Ich muß ihm die Ziege zurückgeben und mit ihm abmachen, später auf Jagd zu gehen. Wenn der Tiger nicht zu uns kommt, müssen wir zu ihm gehen.«
Laura warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Ich weiß zwar, daß Sie angeblich nicht viel schlafen, aber manchmal müssen doch selbst Sie es tun, nicht wahr?«
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, gab er mit plötzlich harter Stimme zurück. Das Zicklein im Schlepptau, marschierte er auf Punwa zu. Laura zog die Brauen zusammen, während sie ihm nachsah. Selbst wenn er gelöster war, machte der Major immer noch den Eindruck einer fest gespannten Bogensehne. Wenn er nicht lernte, sich auszuruhen, dann würde er eines Tages einfach zerreißen.
Sie wandte sich dem nahen Feld zu, auf dem bereits Frauen und Kinder arbeiteten. Laura winkte, denn sie erkannte einige von ihnen von früheren Reisen nach Nanda. Ganz in der Nähe stand eine junge Frau namens Kunthi. Laura rief ihr einen Gruß zu und bekam ein schüchternes Lächeln als Antwort. Die Frau deutete auf ein Kind, das am Rand des Feldes Blumen pflückte. »Erinnerst du dich noch an meinen Narwa, Memsahib? Damals war er noch ganz klein.«
»Was für ein großer Junge er geworden ist«, rief Laura zurück. »Ich hätte ihn gar nicht erkannt.«
Die laute Unterhaltung lenkte Narwa ab. Er schenkte Laura ein sonniges Lächeln, während er auf sie zu tappte und die Blumen mit beiden Patschhändchen umklammerte. Da er erst knapp über zwei Jahre war, war sein Gang noch wackelig und unsicher. Lächelnd hockte sich Laura auf einen gefällten Baumstamm und sah ihm entgegen, denn gewiß wollte er sie aus eigener Kraft erreichen.
Innerhalb eines Sekundenbruchteils veränderte sich die Szene von friedlicher Idylle in reinen Schrecken. Laura erhaschte aus dem Augenwinkel eine Bewegung, blickte müßig zur Seite — und erstarrte voll Entsetzen, als sie einen Tiger aus dem Wald brechen sah, dessen Bauch in seiner geduckten Haltung fast auf dem Boden schleifte. Dies war kein verdutzter Leopard und keine Tigerin mit Muttergefühlen. Dies war der Menschenfresser, über zweihundert Kilo Muskeln, Zähne und Klauen. Und das Ziel seiner Pirsch war Narwa, der nichtsahnend Laura Blumen bringen wollte.
In der Hoffnung, ihre Stimme könnte den Tiger verscheuchen, sprang Laura auf und schrie: »Ian!«
Doch statt zu fliehen, richtete der Tiger sich auf, beschleunigte und setzte mit weiten Sprüngen auf sie zu, ohne sich von dem Hinken auf der linken Vordertatze beeinträchtigen zu lassen.
Nun konnten ihn auch die Feldarbeiter sehen, die sofort zu schreien begannen. Kunthi stand am nächsten. Mit einem entsetzten Kreischen begann sie, auf ihren Sohn zuzulaufen, doch sie war zu weit entfernt, um ihn vor dem Tiger zu erreichen.
Beim Klang der Stimme seiner Mutter drehte Narwa sich um und sah die goldschwarze Bedrohung auf sich zustürmen. Er wimmerte, versuchte jedoch nicht, zu fliehen.
Durch reinen Instinkt getrieben rannte Laura über die freie Fläche, und ihr Magen schien sich umdrehen zu wollen, während sie hastig Entfernung und Winkel abschätzte. Narwa war gut zwanzig Yards von Laura entfernt, der Tiger etwa sechzig, und er gewann rasch an Boden. Ian stand so weit weg, daß ein gezielter Schuß schwierig sein würde, selbst wenn er die Schreie gehört hatte. Schlimmer noch: Wenn er aus seiner gegenwärtigen Position schießen mußte, würde er riskieren, das Kind oder Laura zu treffen. Einzig Laura hatte die Chance, noch etwas zu retten.
Als sie Narwa erreichte, war der Tiger schon so nahe, daß sie das goldene Funkeln seiner Augen erkennen konnte. Er sammelte seine Muskeln zum letzten Sprung, als sie ihren Topi vom Kopf riß und ihn mit aller Kraft auf das Tier zuschleuderte.
Durch pures Glück traf der harte Rand des Helms das linke Auge des Tigers. Fauchend vor Wut zuckte er ein wenig zusammen, während Laura, ohne innezuhalten, das Kind in ihre Arme riß.
Die Zeit schien sich plötzlich zu verlangsamen. Narwa war ein kompaktes, zappelndes Gewicht in ihren Armen, und die Blumen kitzelten ihren Hals. In der Ferne hörte sie das Jammern der Frauen auf dem Feld.
Laura packte Narwa fester und machte einen Ausfall nach rechts, denn sie hoffte, der Tiger würde durch die Richtungsänderung langsamer werden. Dann stürmte sie auf den Baumstamm zu, der ihr wenigstens etwas Schutz bieten
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